Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 448 Seiten. 52 Euro
Einer der wenigen herausragenden deutschsprachigen Lyrikbände seit 1945: Fünfzig Jahre nach der verkürzten Erstausgabe seines wichtigsten Gedichtbandes und dem fast gleichzeitigen Tod des Dichters erscheint „Westwärts 1&2“ nun erstmals in der vom Autor ursprünglich konzipierten Form. – Die Jahrestage um den Dichter Rolf Dieter Brinkmann häufen sich in diesen Tagen: Vergangenen Mittwoch wäre er 85 Jahre alt geworden, bald, kurz nach Ostern, jährt sich zum 50. Mal sein Todestag. Und 40 Jahre ist es bald her, dass die Stadt Köln ihr jährliches Förderstipendium für junge Autoren nach ihm benannte. Der wichtigste Jahrestag für seine Leser wird aber im Mai sein, da erschien vor 50 Jahren zum ersten Mal sein bedeutendster Gedichtband, „Westwärts 1&2“. Dieser Band machte ihn berühmt. Nicht nur wegen des radikal neuen Klangs seiner Lyrik, sondern auch, weil er kurz vor seinem Erscheinen auf einer Vortragsreise in London mit erst 35 Jahren tödlich verunglückte. Aber zu seinem Ruhm haben nicht die daraus folgende Mystifizierung, sondern vor allem die allmählich wachsende Erkenntnis der überragenden Qualität seines dichterischen Werks beigetragen. Als im Mai 1975 „Westwärts 1&2“ herauskam, stand das noch nicht fest. Denn der Band erschien in einer stark gekürzten, vom Autor so nicht vorgesehenen Form. Das musste er akzeptieren, denn er lebte Anfang der 1970er Jahre in der Kölner Engelbertstraße in allerbitterster Armut. „Sieben Gedichtbände, zwei Erzählungsbände, einen Roman, zwei Übersetzungen aus dem Amerikanischen, zwei Anthologien, drei Hörspiele“, schrieb er 1974. „Das macht 17 größere Arbeiten in acht Jahren. Und davon kann ich nicht leben.“ – Um so bewundernswerter, dass er seiner aus der Armut erwachsenen Depression 1975 den wegweisenden Gedichtband „Westwärts 1&2“ abtrotzen konnte. – Jetzt erscheint er erstmals in der vom Autor vorgesehenen Form – ergänzt noch durch 26 Gedichte aus dem Nachlass, die Brinkmann ursprünglich auch noch für „Westwärts 1&2“ vorgesehen hatte.
Zurückgekehrt in dieses / traurige, alte Europa…/ und, und
Glutwindröhre, / Die Erde ähnlich einer/Steinsäule
Die Tümpel! Rimbaud!
Die Sonne breit / wie ein Blatt.
an einem Samstag / frühen Nachmittag im Mai 1974 mit / einem Bus durch das Niemandsland / am Stadtrand fahren,
Erdwälle, Gruben / wilde Müllkippen
Wechselkurse Scheiße
So beginnt das Gedicht „Westwärts, Teil 2“. Darin hat Rolf Dieter Brinkmann Eindrücke seiner Wahlheimat Köln kurz nach der Rückkehr von einem Aufenthalt als Gastdozent in Texas verarbeitet. Im Schriftsatz stehen zwei Stimmen nebeneinander. Man kann sie zwar nur einzeln lesen, gedacht sind sie aber als gleichzeitig, sich überblendend. – Wie im Film. Unaufhörlich benutzt Rolf Dieter Brinkmann in seiner Lyrik Verfahren der Filmtechnik. Ohne sie sind seine Gedichte nicht zu verstehen. Das Kino war sein Lehrmeister. Anfang der 1960er Jahre, während seiner Buchhändlerlehre in Essen, stürzt er nach jedem Feierabend ins Kino. Mit der französischen Nouvelle Vague will er die autoritäre katholische Sozialisation im niedersächsischen Vechta aus dem Kopf bekommen. Nachts liest und schreibt er. – Die unerbittliche Konsequenz, mit der er seine radikal subjektive Wahrnehmung schnappschussartig in poetische Sprache verwandelt, macht seine Lyrik unvergleichbar mit jeder lyrischen Tradition.
Eine Absicht bei mir war von Anfang an da: Nämlich gegen den Begriff Gedicht mit meinen Gedichten zu schreiben, gegen die Bedeutung, die z.B. einem Gedicht beigemessen wird, also gegen Gedichte als elitäre Kunstprodukte.
Obwohl der Gedichtband „Westwärts 1&2“ im Mai 1975 in einer bloß verkürzten Form erschien, wirkte das Buch in der literarischen Öffentlichkeit wie ein Paukenschlag. Denn es sprengte selbst in dieser reduzierten Form tatsächlich – wie vom Autor beabsichtigt – alle bis dahin gültigen Vorstellungen von Lyrik. Und nicht nur der „Gedichte“ wegen. Auch von Brinkmann selbst aufgenommene Schwarz-Weiß-Fotografien fanden sich darin, assoziativ gegeneinander geschnitten: Schnappschüsse von Bäumen und Menschen, surreale Details und öde Stadtlandschaften. Nichts fügt sich zu einem harmonischen Ganzen. – Um die Entwicklung seiner Fotografien bezahlen zu können, musste Brinkmann sich von wertvollen Erstausgaben trennen. Denn er lebte in entwürdigender Armut. Manchmal sah ich ihn Anfang der 1970er in einer Kneipe auf der Kölner Engelbertstraße. Immer wirkte er schlecht gelaunt. Kein Wunder: Dieser Dichter fühlte sich weder wohl in seiner Haut und seiner Umgebung noch überhaupt wohl in der Welt. Seine depressive Grundgestimmtheit aber macht seinen Blick nicht trübe, sondern, ganz im Gegenteil: Überscharf.
Gedicht
Zerstörte Landschaft mit / Konservendosen, die Hauseingänge / leer, was ist darin? Hier kam ich / mit dem Zug nachmittags an, / zwei Töpfe an der Reisetasche / festgebunden. Jetzt bin ich aus / den Träumen raus, die über eine / Kreuzung wehn. Und Staub, / zerstückelte Pavane (? Was ist das?), aus totem / Neon, Zeitungen und Schienen / dieser Tag, was krieg ich jetzt, / einen Tag älter, tiefer und tot? / Wer hat gesagt, dass sowas Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau.
Das „andere Blau“ – die Farbe mit dem „höchsten Wallungswert“, wie der von ihm bewunderte Gottfried Benn sagte, ein tiefes, fast schwarzes Blau steht für die durchaus romantische Seite in Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik. Der darin vorherrschenden Tristesse zum Trotz nimmt sie die alltäglichen Dinge oft aus ihrem traurigen Kontext heraus – und plötzlich erkennt man, wie schön sie sind. – Allein solcher Stellen wegen ist „Westwärts 1&2“ trotz aller Komplexität und auch fünfzig Jahre nach seinem Ersterscheinen ein literarischer Genuss. Zumal jetzt endlich auch in voller Länge.
Trauer auf dem Wäschedraht im Januar.
Ein Stück Draht, krumm / ausgespannt, zwischen zwei / kahlen Bäumen, die / bald wieder Blätter / treiben, früh am Morgen / hängt daran eine / frisch gewaschene / schwarze Strumpfhose / aus den verwickelten / langen Beinen tropft / das Wasser in dem hellen / frühen Licht auf die Steine.
WDR3 Westart Lesen 19. April 2025