Anna Langfus, Gepäck aus Sand. Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Verlag Die Andere Bibliothek. 288 Seiten. 48 Euro
Anna Langfus, Gepäck aus Sand. Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Verlag Die Andere Bibliothek. 288 Seiten. 48 Euro
Der 1962 auf Französisch erschienene und nun neu übersetzte Roman „Gepäck aus Sand“ von Anna Langfus ist ein bahnbrechendes Werk, weil er einer der ersten Texte war, die sich mit den generationenübergreifenden Folgen des Holocaust, mit den Schuldgefühlen der Überlenden, literarisch auseinandersetzte. – Im Zentrum des literarischen Schaffens der 1920 im polnischen Lublin als Anna-Regina Szternfinkiel geborenen Autorin steht die literarische Verarbeitung des Traumas der Holocaust-Überlebenden: Wie erleben sie das Schuldgefühl, die einzigen ihrer Familie zu sein, die den Todesmaschinen der Nazis entkamen? Können sie dieses Schuldgefühl überhaupt verarbeiten? Können sie ein „normales“ Leben führen? Wie beschädigt ist dieses Leben? – In ihren Romanen, – „Gepäck aus Sand“ ist ihr zweiter, auf französisch erschienener – scheint immer wieder ihre eigene Biografie durch: Ihre Eltern und ihr Mann Jakob Reis wurden vor ihren Augen im Ghetto von Lublin ermordet. Ihr gelang die Flucht und sie kämpfte bis zur Befreiung im Untergrund, in der polnischen Heimatarmee. 1946 verließ sie Polen, ließ sich in Frankreich nieder, denn sie hatte schon vor dem Krieg Französisch gelernt und in Belgien studiert, arbeitete zunächst als Mathematiklehrern und engagierte sich in verschiedenen jüdischen Institutionen.
Ziellos streunt Maria, die Erzählerin, eine junge Frau in ziemlich prekären Verhältnissen, durch die Straßen. Manchmal kehrt sie in Parks ein, sitzt Stunden um Stunden auf den Bänken dort, manchmal aber bleibt sie Tage hintereinander im Bett in ihrem winzig kleinen Mansardenzimmer. Bis es dann eines Tages klopft, ein stattlicher Mann eintritt, sich als ihr Onkel vorstellt und sie zum Abendessen bei seiner Familie einlädt. Es sind reiche Leute und ihre jüngere Cousine behandelt sie schnippisch als die „arme Verwandte“. Eigentlich möchte Maria gleich weglaufen, bleibt aber dann doch zum Essen.
„Für dich waren diese fünf Jahre bestimmt grauenhaft“, sagt meine Tante, einen Dessertteller voller Vanillecreme vor sich. „Und wie sind deine Eltern…?“ „Bitte Simone, lassen wir die Vergangenheit ruhen“, fällt mein Onkel ihr schroff ins Wort. „Für sie beginnt jetzt ein neues Leben. Alles andere sollte sie vergessen.“
Der Roman spielt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich, wohin Maria von Polen fliehen konnte. Sie ist eine Holocaust-Überlebende, ihre übrigen Verwandten wurden während des Krieges getötet. – Aber ob für sie jetzt tatsächlich ein neues Leben beginnt und sie das Vergangene vergessen kann – das ist mehr als fraglich und – ist das Thema dieses Romans: Geschrieben von einer Überlebenden, die in Frankreich den Namen ihres ebenfalls jüdischen Mannes – Langfus – annahm. – Ihre Biografie scheint immer wieder durch in diesem 1962 geschriebenen Roman, allerdings nie explizit, angedeutet nur in gespenstischen, albtraumhaften Szenen, unangekündigt, fast überfallartig eingeblendet in den realistischen Erzählfluss.
Das Mädchen steht kerzengerade da, samt Zöpfen und Schulkittel, den Kopf stolz erhoben. Vor ihr ein Deutscher, der das Magazin seines Revolvers prüft. Dann sagt er: „Achtung, gleich töte ich dich.“ Und das Mädchen stellt sich noch aufrechter hin, wirft den Kopf zurück. „Sie können mich nicht töten, ich war Klassenbeste in Französisch.“
Maria, die Erzählerin, lernt bei ihren Besuchen im Park einen älteren Herrn kennen, den schüchternen und etwas steifen Michel Caron. Er lädt sie ins Café ein, sie freunden sich an und eines Tages offenbart Caron Maria, dass er sie liebt. Obwohl sie das Gefühl absolut nicht erwidern kann, lässt sie sich schließlich doch auf seine Einladung ein, den Sommer mit ihm im leerstehenden Haus eines Freundes an der Côte d’Azur zu verbringen. Womit eine Geschichte beginnt, die auf den ersten Blick an Françoise Sagans „Bonjour Tristesse“ erinnert und diesem 1954 erschienen Roman auch wohl nachempfunden scheint: Unter dem strahlenden Himmel des Südens entspannt sich eine Reihe von verwickelten Beziehungen: Nach einem ersten, gescheiterten Versuch Carons, mit Maria zu schlafen, leben sie im Haus angespannt nebeneinander her. Sie freundet sich mit einer Gruppe von Kindern an und verbringt mit ihnen die Tage am Strand. Der Sommer scheint endlos – aber er bringt ihr keine Erlösung. Fast täglich erscheinen ihr die Schatten der Vergangenheit, ihre Eltern und ihr Geliebter, Jacques, – alle starben im Ghetto.
Nachts suchen sie mich auf der Terrasse wieder heim. Manchmal alle drei, manchmal Jacques allein. Sie sehen mich schweigend an. Wenn ich ins Bett gehe, weiß ich, dass sie dort sitzen bleiben, draußen, ihre mondweißen Gesichter drehen sich meinem Fenster zu.
Diese den Roman durchtränkende, depressive Stimmung hat mit der trivialen Tristesse des Sagan-Vorbildes absolut nichts mehr gemein. Mit einer ungemein klar artikulierenden Sprache, von Patricia Klobusiczky auf Augenhöhe neu übersetzt, verarbeitet Anna Langfus in ihrem Roman das überwältigende Schuldgefühl der Überlebenden. Wenn Maria am Schluss allein in den Bus steigt, um die Côte d’Azur zu verlassen, treibt es dem Leser die Tränen in die Augen. Denn er weiß, dass diese Frau nie aufhören wird, sich nach dem Tod zu sehnen, ohne vom Leben lassen zu können.
WDR3+5, Westart, 20. Februar 2025