Eleanor Marx, 1855 geboren als die jüngste Tochter des Philosophen Karl Marx, wurde vom Vater als Kind und junge Frau überbehütet. Aus diesem Abhängigkeitsverhältnis löste sie sich erst nach seinem Tod und wurde eine führende Persönlichkeit der englischen Gewerkschaftsbewegung.
Im März 1874 schreibt die 19jährige Eleanor Marx an ihren Vater.
Ich möchte Dich etwas fragen, aber Du musst mir versprechen, dass Du nicht böse wirst. Ich möchte gern wissen, wann ich Lissagaray wiedersehen darf. Es ist so hart, ihn niemals sehen zu dürfen und ich fühle, dass ich es nicht mehr ertragen kann.
Die unterwürfige Bitte an den Vater, Prosper-Olivier Lissagaray wiedersehen zu dürfen, den sie zwei Jahre zuvor kennengelernt hatte, spiegelt das überaus enge Verhältnis Eleanors zu ihrem Vater Karl Marx.
(Weissweiler) Ich glaube, dass das Abhängigkeitsverhältnis gegen- und beiderseitig war. Sie war ja die jüngste seiner Töchter und sie war ihm mit Anstand am ähnlichsten. Sowohl äußerlich als auch vom ganzen Temperament.
Eva Weissweiler hat eine Biografie über Eleanor Marx geschrieben, – „Lady Liberty“.
(Weissweiler) Und er wollte auf gar keinen Fall, dass sie sich mit Lissagaray, dem baskischen Revolutionär und Journalisten, liierte. Den hat er ja geradezu mit pathologischer Eifersucht bekämpft und er wollte auch nicht, dass sie sich dann zeitweilig ihr eigenes Geld verdiente als Lehrerin an einem Mädchenpensionat. Das heißt er hat sie mindestens genauso pathologisch überbehütet und als seinen Besitz betrachtet wie sie an ihm geklammert ist.
Jenny Julia Eleanor Marx kommt am 16. Januar 1855 in London in den äußerst ärmlichen Verhältnissen der Exilanten-Familie Marx als viertes Kind zur Welt. Dem Vater ist noch ein Familienmitglied zuerst gar nicht recht, doch Eleanor sollte seine Lieblingstochter werden. Bis zu seinem Tod 1883 arbeitet sie als Assistentin ihres Vaters, führt seine Korrespondenz, begleitet ihn auf Reisen. Danach kümmert sie sich um seinen Nachlass, doch gleichzeitig gelingt es ihr, sich nach ihrem eigenen Willen zu entfalten. Statt wie Marx seine jüdische Herkunft zu verleugnen, bekennt sie sich dazu, lernt Jiddisch. Sie versucht sich als Schauspielerin und Rezitatorin, reüssiert als Übersetzerin. Neben der „Geschichte der Pariser Commune“ von Lissagaray, von dem sie sich schon 1882 trennte, überträgt sie als Erste Gustave Flauberts „Madame Bovary“ ins Englische. – Und entwickelt sich dann allerdings ganz im Sinne des Vaters zu einer Vorkämpferin und landesweit bekannten Propagandistin der britischen Gewerkschaftsbewegung.
Wenn der Eisenbahnzug von einer kleinen Stadt zur anderen rast, sieht man nichts als Riesenfabriken und große Schmelzöfen. Sie treten aus der Dunkelheit hervor, beleuchtet durch die lodernden Flammen, halb nackte Männer werden im Rauch sichtbar, von einem Platz zum anderen eilend. Wenn sie so mit brennenden Stangen bald hier, bald dort auftauchen, erscheinen sie für alle Welt wie Seelen in der Verdammnis. Und Körper in der Hölle der kapitalistischen Verdammnis sind sie allerdings.
Berichtet Eleanor im Jahr 1893 für die Wiener Arbeiterinnen-Zeitung von ihren zahlreichen Reisen durch England, wo sie vor Arbeiterclubs und Gewerkschaften über die Ideen des Sozialismus sprach.
(Weissweiler) Es gab ja Wochen und Monate, wo sie mehr oder weniger Tag und Nacht in Fabriken, in Parks und in Kneipen Reden gehalten hat. Sie muss eine enorme Ausstrahlung gehabt haben. Das muss die Leute in dem sonst eher nüchternen England sehr fasziniert haben. – Für sie war nicht die Lehre von Marx das Fundament, sondern das Fundament war die tägliche Not, die sie sah, die Not in den Fabriken, in den Docks, in den Slums, im East End. Ich würde sagen, dass sie mehr eine Sozialarbeiterin und Sozialrevolutionärin als eine Marxistin war. Wobei sie diesen Ausdruck nie für sich benutzt hat.
Doch auch bei der Entwicklung des internationalen Sozialismus spielt Eleanor eine Rolle. 1889 ist sie Delegierte beim Gründungskongress der Zweiten Internationale in Paris, 1890 englische Delegierte und einzige Frau beim ersten Parteitag der deutschen Sozialdemokraten. – In ihrem Privatleben aber folgt sie, obwohl doch auch Vorkämpferin der britischen Frauenbewegung, dem Muster der vom Ehemann abhängigen Frau.
(Weissweiler) Alle drei Marx-Töchter waren so erzogen, dass sie nie in wirkliche Opposition zu ihren Ehemännern gegangen sind. Auch die beiden älteren nicht. Die anderen Ehemänner waren allerdings nicht so Drecksäcke wie der Aveling.
Was wohl die treffende Bezeichnung für Edward Aveling ist, einen hochverschuldeten Hasardeur, mit dem Eleanor seit 1884 zusammenlebte, – obwohl er sie ständig betrog.
Sie endete durch eigenen Entschluss, durch die eigene Hand. Nicht durch eigene Schuld.
Heißt es im Nachruf des deutschen Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht. Nachdem Eleanor erfahren hatte, dass Aveling hinter ihrem Rücken und unter falschem Namen eine zwanzig Jahre jüngere Schauspielerin geheiratet hatte, nahm sie sich 1898 im Alter von 43. Jahren das Leben.
Deutschlandfunk, Kalenderblatt 16. Januar 2025