Melancholie und Gesellschaft

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Wenn von der „Volkskrankheit Depression“ die Rede ist, dann klingt das erstmal harmlos, nach Herbstmelancholie oder Frust auf der Arbeit. Doch eine diagnostizierte Depression sollte auf keinen Fall verharmlost werden. Es kann lebensbedrohliche, in den Suizid führende Erkrankung sein. Jeder vierte Erwachsene in Deutschland hat schon einmal eine Depression diagnostiziert bekommen. Zudem gefährdet sie nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch den Zusammenhalt der Familie der Betroffenen. Gestern ist das neue Depressionsbarometer veröffentlicht worden – eine seit 2017 alljährlich durchgeführte Umfrage-Studie der Stiftung „Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention“.

„Melancholie und Gesellschaft“ hieß im Jahr 1969 eine aufsehenerregende Schrift des Soziologen Wolf Lepenies in der von den „68ern“ begründeten Tradition, das „Subjektive“ als ein gesellschaftliches Phänomen zu begreifen. Allerdings machte Lepenies nicht modisch „den Kapitalismus“ für die Traurigkeit der Einzelnen verantwortlich. Die Traurigkeit seines zuerst im 17. Jahrhundert verorteten „Melancholikers“ führte er auf den Verlust an politischer Macht zurück.

Machtverlust scheint auch heute noch der Schlüsselbegriff zu sein, um die moderne Ausprägung der Melancholie, die Depression, zu beschreiben. Die zentralen Symptome einer klinischen Depression sind Niedergeschlagenheit, Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit. Nahezu allen depressiven Erkrankungen gemein ist ein geringes Selbstwertgefühl der Betroffenen: Sie trauen sich nur noch wenig zu, fühlen sich nicht mächtig genug, weder etwas an ihrer eigenen Situation noch an der ihrer Umgebung und erst recht nicht an der allgemeinen gesellschaftlichen Lage ändern zu können.

Die mit Depressionen befassten Psychotherapeuten sprechen vom „langen Schatten der Gesellschaft“, der auf die Betroffenen fällt. Denn neben persönlichen Schicksalsschlägen tragen ihren Erkenntnissen nach vor allem Faktoren wie Arbeitsbedingungen und ein niedriger soziökonomischer Status zur Entwicklung der Krankheit bei. Das heißt, wer arbeitslos wird oder ist, wer prekär beschäftigt ist, wer also die Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit am eigenen Leibe spürt, macht am ehesten die Erfahrung von Abwertung und Vereinzelung. Wer wundert sich da, dass mit höherem Einkommen die Häufigkeit einer depressiven Erkrankung statistisch abnimmt? Zu große soziale Ungleichheit macht krank. 

Seit 2017 wird in der Umfrage-Studie in jedem Jahr ein besonderer Aspekt der „Volkskrankheit Depression“ in den Vordergrund gestellt: 2019 war es das Alter, nämlich die altersbedingte Depression und in der Folge die hohen Suizidraten im Alter. 2020 stand natürlich Corona und 2023 dann die Einsamkeit und der Mangel an Sozialkontakten im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit.

In diesem Jahr macht die inzwischen achte Studie des Depressionsbarometers das Thema „Familie“ zum Schwerpunkt. Sie fand heraus, dass auf der einen Seite die Familie eine wichtige Stütze auf dem Weg durch die Erkrankung ist. Für dreiviertel der betroffenen Familien ist die Erkrankung eines ihrer Mitglieder jedoch eine große Belastung für das Familienleben, in jeder fünften Familie kommt es sogar zum Kontaktabbruch. – Für die nächste Studie scheint unbedingt angeraten zu sein, die Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Denn viele Studien zeigen, dass Frausein neben Alter und geringem Einkommen der größte Risikofaktor ist, depressiv zu werden. 

Insgesamt aber ist die so präzise soziologische Durchleuchtung einer Krankheit, die allzu oft als ein bloß individuelles Problem verharmlost wurde, ein großes Verdienst des „Depressionsbarometers“. Solche Analysen sensibilisieren für die gesellschaftlichen, insbesondere für die ökonomischen Ursachen von Krankheiten. Aber sensibilisieren sie auch diejenigen, die wissenschaftliche Erkenntnisse in gesellschaftliche Institutionen umsetzen, also die gesundheitspolitisch Verantwortlichen? Wenn man sich anschaut, wie unendlich lange trotz allen Wissens um die Depression Betroffene immer noch auf einen Therapieplatz warten müssen, zweifelt man an ihrer Verantwortlichkeit. Und wünscht sich, es gäbe nicht nur eine Krankenhaus- sondern auch eine Therapie-Reform.

WDR3 Mosaik 27. November 2024