Peter Heather und John Rapley, Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens. Aus dem Englischen von Thomas Andresen. Klett-Cotta. 284 Seiten. 25 Euro
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Die Binsenweisheit, dass Geschichte sich nicht wiederholt, wird dann gerne ignoriert, wenn es gilt, sich mit vergangener Größe zu vergleichen. Dazu bietet sich mit Vorliebe das Römische Imperium an. Mit Begeisterung zitierte beispielsweise der Trump-Berater Steve Bannon immer wieder aus Edward Gibbons berühmtem „Verfall und Untergang des römischen Imperiums“, um den Untergang Amerikas zu beschwören, wenn es sich weiter von seinem religiösen Erbe abkehre. – Gibbon hatte in seinem von 1776 an erscheinenden Werk den Untergang Roms auf dessen von wirtschaftlichem Niedergang begleiteten Dekadenz sowie den Einfall von „Fremden“, dem Christentum und den germanischen „Barbaren“ zurückgeführt. Vehement widersprechen nun Peter Heather und John Rapley dieser inzwischen landläufig gewordenen Sicht.
Gibbon hat sich geirrt. Das Römische Reich siechte nach seinem Goldenen Zeitalter im zweiten Jahrhundert nicht langsam dahin, bis schließlich im fünften Jahrhundert der unvermeidliche Zusammenbrich kam. Tatsächlich stand es unmittelbar vor seinem Ende noch in voller Blüte.
In einer sorgfältigen, auf neueste archäologische Erkenntnisse zurückgreifenden Argumentation treten die Autoren im ersten Teil ihres Buches den Beweis für die Widerlegung der Gibbonschen Behauptungen an: Keineswegs ist von einem ökonomischen Niedergang des Römischen Reichs zu sprechen. Und das Christentum hatte zu diesem Zeitpunkt mitnichten einen destruktiven, sondern im Gegenteil einen eher stabilisierenden Einfluss auf die römische Herrschaft. Was Gibbon aber vor allem übersah, war, dass sich der Reichtum und die Macht im spätrömischen Reich vom Zentrum in Rom und Italien in die Provinzen außerhalb, nach Trier etwa, nach Narbonne oder nach Spanien verlagert hatte, – in die Peripherie des Kernreiches. – Und eben genau im Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie sehen Heather und Rapley eine historische Parallele zwischen dem Römischen Imperium und der Herrschaft des Westens bzw. der USA: Deren Macht nämlich beruhte bis in die 1990er Jahre auf der Kontrolle über die Peripherie, und das heißt den ehemaligen Kolonialreichen in Afrika, Südamerika und Asien.
Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass der imperiale Lebenszyklus des modernen Westens zumindest einen wichtigen Wendepunkt erreicht hat. Sein Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt ist in weniger als zwanzig Jahren um über ein Viertel zurückgegangen. Vor diesem Hintergrund besitzt der nachhaltige Vergleich mit dem Zerfall des römischen Systems trotz vieler Unterschiede im Kontext und in den genauen Details weiterhin – so unsere These – eine große Erklärungskraft.
Im zweiten Teil ihres Buches ziehen die Autoren diesen Vergleich zwischen den Schlüsselfaktoren für den Zusammenbruch Roms und den Kernursachen für die Krise der westlichen globalen Vorherrschaft. Und das mit der expliziten Absicht, daraus Prognosen für die Zukunft des Westens entwickeln zu können, etwa im Sinne des „aus Fehlern lernen“. Da der historische Vergleich ein absolut legitimes Instrument der Geschichts- wie der politischen Wissenschaft ist, kann dagegen kaum etwas eingewendet werden. Die Frage ist nur, wie plausibel die Prognosen im Einzelnen sind, die die Autoren „dem Westen“ am Ende ausstellen, um dem Schicksal Roms zu entgehen. – Den überzeugendsten Vorschlag ziehen sie aus dem Faktor, der zum unmittelbaren Zusammenbruch des westlichen römischen Imperiums führte, der Migration. Denn ganz ohne Zweifel brach das Imperium im 4. Jahrhundert nicht wegen seiner „Dekadenz“, sondern unter einem „exogenen Schock“ zusammen, dem gewaltsamen Ansturm vor allem germanischer Stämme. Das aber ist der Umstand, warum Demagogen von Bannon bis Boris Johnson den Vergleich mit Roms Untergang lieben. Denn so können sie für „den Westen“ das gleiche Schicksal heraufbeschwören: Seinen Untergang durch Asyl suchende „Barbaren“.
So gern man auch über die Barbaren vor den Toren schwadroniert, ähnelt die heutige Situation nicht im Geringsten dem massenhaften Eindringen organisierter Kriegerverbände ins Römische Reich. Nachdem Ungarn kürzlich ein Gesetz verabschiedet hat, das erlaubt, Asylsuchende ohne ordentliches Verfahren abzuschieben, ist die Zahl der Einwanderer um über 75 Prozent gesunken. Das spätrömische Reich hätte nur davon träumen können, die barbarischen Invasionen einfach per Gesetz zu stoppen.
Heather und Rapley betonen dagegen die überragende Wichtigkeit der Migration für die Prosperität und damit das Überleben „des Westens“. Sie weisen darauf hin, dass Einwanderer seit 1945 eine maßgebliche Rolle für die wirtschaftliche Dynamik des Westens gespielt haben und argumentieren, dass selbst ungelernte Einwanderer mehr Nutzen als Kosten bringen. – Was ihre übrigen Schlussfolgerungen angeht, die sich aus dem Vergleich des Verhältnisses zwischen imperialem Zentrum und seiner Peripherie in Rom und im „Westen“ ergeben, kann man geteilter Meinung sein: Dass etwa die „demokratischen Institutionen“ und die „bessere Lebensqualität“ des Westens für die Menschen des „Globalen Südens“ noch auf längere Sicht attraktiv sein werden, lässt sich angesichts des wachsenden Einflusses von China und des „BRICS“-Bündnisses bezweifeln. – Dass „der Westen“ nicht wieder zu alter Größe gelangen kann, ist offensichtlich. Aber dass er noch die Kraft haben soll, eine neue, „weniger selbstherrliche Weltordnung“ zuwege zu bringen, ist angesichts des wachsenden Autoritarismus allüberall bloß ein frommer Wunsch. – Trotzdem: Ein überaus lesenswertes, kluges Buch und ein Beweis dafür, dass sich aus der Geschichte jede Menge lernen lässt.
WDR3 Gutenbergs Welt 23. November 2024