Schlafwandler vorm Absturz

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Die Ampel-Koalition wackelt. Zwar schon seit langem, jetzt aber ganz aktuell. Es geht nicht mehr nur um den „Herbst der Entscheidungen“, wie die FDP tönte, jetzt ist laut SPD-Chef Lars Klingbeil, die „Woche der Entscheidungen“ angebrochen. Heute Abend treffen sich die Spitzen der Koalition im sogenannten Koalitionsausschuss, davor wollen sich Kanzler Scholz, Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister Lindner aber noch „zu dritt“ beraten. – Es fragt sich, wie es zu der Zerrüttung der Koalitionäre überhaupt kommen konnte und vor allem fragt sich, wie verantwortungslos sie dabei angesichts einer wirklich bedrohlichen Weltlage das Regierungsschiff treiben lassen konnten.

In seinem 2012 erschienenen Buch „Die Schlafwandler“ kommt der australische Historiker Christopher Clark zu dem Ergebnis, dass für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges keine der beteiligten Großmächte allein verantwortlich gewesen ist. Vielmehr sei der Kriegsbeginn die Folge einer langen Kette keineswegs unausweichlicher Entscheidungen aller beteiligten Akteure gewesen: Mit schlafwandlerischer Sicherheit balancierten sie so lange auf dem Seil ihrer egoistischen Interessen über dem Abgrund, bis sie abstürzten.

Auch wenn nach der heutigen Sitzung des Koalitionsausschusses kein Krieg ausbrechen wird, – einen Absturz ins politische Chaos könnte sie allemal zur Folge haben. Seit Monaten taumeln die drei beteiligten Koalitionspartner selbstvergessen auf den Seilen ihrer jeweiligen ideologischen und politischen Interessen. Von einer Verantwortung gegenüber dem Staat– und die sollte eine Regierungskoalition doch schließlich tragen – kann da nicht mehr die Rede sein.

Natürlich kann man der Profilierungssucht der Lindner-FDP die Hauptschuld an der heillosen Vorstellung geben, die die Koalition inzwischen bietet: Notorisch fliegt sie aus einem Landtag nach dem anderen, ihr andauerndes bundesweites Umfragentief weckt Existenzängste. Doch die haben die beiden anderen Parteien angesichts rasant sinkenden Wählerzuspruchs auch: Krampfhaft bemühen sie sich in der Koalitionspolitik um ihre Stammwählerschaft – was natürlich nur auf Kosten der anderen Koalitionäre gehen kann. Des einen Umweltpolitik schließt die Wirtschaftspolitik des anderen ebenso aus wie die Sozialpolitik des Dritten.

Angesichts einer Weltlage, die alles andere als freundlich ist, könnte man meinen, eine deutsche Regierungskoalition sollte sich endlich mal zusammenreißen und sich zu einem geschlossenen Auftritt durchringen: In den USA kommt sehr bald schon eine neue Administration an die Macht. Da muss sich eine deutsche Regierung einig sein, wie man sich ihr gegenüber verhält. In der Ukraine droht der Zusammenbruch der Front. Wie geht Deutschland mit einem siegreichen Putin um? Wie verhält es sich, wenn der Konflikt im Nahen Osten militärisch eskaliert? Was tut es, wenn immer mehr Staaten von den vereinbarten klimapolitischen Zielen abrücken?

Deutschland ist geopolitisch ein Schwergewicht. Wenn seine Regierung über Monate ein Kasperletheater aufführt, bei dem die Regierungsmitglieder nichts anderes im Sinn haben, als sich gegenseitig die Pritsche über den Kopf zu ziehen, macht es sich lächerlich. Und ist im Notfall nur bedingt handlungsfähig. Immerhin der Kanzler scheint begriffen zu haben, in welcher Verantwortung Deutschland steht. In Blick auf die Sitzung des Koalitionsausschusses heute Abend meinte er, jetzt gehe es um Pragmatismus und nicht um Ideologie. Hoffen wir das Beste, liebe Hörer.

WDR3 Mosaik 6. November 2024