Robert Harris, Abgrund

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Robert Harris, Abgrund. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne-Verlag. 512 Seiten. 25 Euro

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Zu Beginn des Ersten Weltkrieges pflegte der britische Premierminister Herbert Henry Asquith eine intensive Beziehung zur 35 Jahre jüngeren Venetia Stanley. Ganze 560 Briefe schrieb er ihr bis 1915. Robert Harris hat aus diesem Stoff eine spannende Geschichte gemacht.Der 1957 geborene Robert Harris ist nicht nur Bestseller-Autor, sondern auch ein politischer journalistischer Kolumnen-Schreiber. Er hat immer ein Ohr am aktuellen politischen Geschehen. Und so konnte es kommen, dass aus seiner Freundschaft mit dem britischen Premier Tony Blair nach deren Beendigung ein hochbrisanter Thriller – der von Roman Polanski verfilmte Roman „Ghost“ wurde, – eine Abrechnung mit Blair. Am Schluss stellt sich heraus, dass der fiktive Premier Adam Lang ein Produkt des amerikanischen Geheimdienstes war.Harris‘ Spezialität als Thriller-Autor ist also die Vermischung von politischer bzw. historischer Realität und Fiktion: Sehr nahe an den Fakten zeichnet er ein historisches Ereignis nach – unter anderen die Münchner Konferenz von 1938 oder die Dreyfus-Affäre, implantiert dann einen fiktiven Strang hinein, die der ohnehin spannenden historischen Geschichte noch einen ganz speziellen Thrill gibt. 

Mit Blick auf die heute täglich zu bewältigende Flut von Kurznachrichten glaubt man ja, dass es im Zeitalter des Briefeschreibens sehr viel geruhsamer zugegangen sei. Welch ein Irrtum! Im London des Jahres 1914 wurde die Post zwölfmal am Tag ausgetragen. Nur so ist die ungeheure Flut von Briefen zu erklären, die der britische Premierminister Herbert Henry Asquith mit seiner Freundin Venetia Stanley während der ersten anderthalb Jahre des Ersten Weltkriegs austauschte. An manchen Tagen gingen vier oder fünf Briefe hin und her. Asquith schrieb in jeder Situation, ob bei der Autofahrt oder während der Sitzungen seines Kriegskabinetts.

Die letzten Monate mit Dir waren wie im Himmel. Ich befürchte, dass ich mich ziemlich albern anhöre, wenn ich Dir von meinen Gefühlen erzähle. Aber ich wünsche mir so sehr, dass Du jetzt bei mir wärst.

Insgesamt sind 560 Briefe Asquiths an Venetia erhalten, die ihren hat er diskret nach Beendigung ihrer Beziehung verbrannt. Dass der mit einem ziemlichen Drachen verheiratete Premierminister den Kontakt zu hübschen jungen Damen schätzte, ist gemeinhin bekannt. Allgemeiner Konsens ist auch, dass der zur 35 Jahre jüngeren Venetia bloß platonisch war. Der Romanautor Robert Harris nimmt sich die Freiheit, das anders zu sehen. Ton und Inhalt von Asquiths Briefen – Harris zitiert ausschließlich aus den Originalen – scheinen ihm Recht zu geben. Und auch nur so ergibt sich aus der Geschichte dieser Beziehung die für einen Roman notwendige dramatische Fallhöhe.

Meine über alles Geliebte. Du weißt sehr genau, das bricht mir das Herz. Ich könnte es nicht ertragen, mit Dir zu reden. Ich kann nur Gott bitten, Dich glücklich zu machen – und mir beizustehen. Immer Dein.

Schreibt der zutiefst erschütterte Asquith an Venetia, nachdem sie ihm im Mai 1915 mitteilte, sie werde Edwin Montagu heiraten, einen Minister aus seinem Kabinett. – Doch bereits vor diesem endgültigen Schritt bahnte sich eine Distanzierung Venetias zum „Prime“, wie sie ihn nennt, an: Seine wachsende Zudringlichkeit ging ihr auf die Nerven, denn Asquiths Mitteilungsdrang kannte keine Grenzen, laufend teilte ihr auch seine politischen und militärischen Überlegungen mit, steckte sogar geheime Dossiers in seine Briefe. Offenbar bedurfte der Premierminister auch des Rates der klugen jungen Adligen.

Gestern habe ich überschlagen, dass ich Dir seit der ersten Woche im Dezember grob geschätzt nicht weniger als 170 Briefe geschrieben habe. Niemals zuvor habe ich irgendeinem menschlichen Wesen in solch einer Zeitspanne auch nur annähernd so viele Briefe geschrieben. Wie erklärst Du Dir das? Ich lege Dir 2 oder 3 kleine Auszüge aus den ausländischen Telegrammen bei, weil das nicht in den Zeitungen stand. Wir scheinen nun wirklich ganz nah am Abgrund zu stehen.

WDR5 Bücher, 2. und 3. November 2024