Kriminalroman. Emons Verlag Oktober 2024
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Löhr hat seine polizeiliche Karriere an den Nagel gehängt und will als Wirt eines Cafés seinen Ruhestand genießen. Doch der ist ihm nicht vergönnt, denn seine Nichte Leonie bittet ihn um Hilfe: Ihr Freund wird verdächtigt, an einem Mord bei einem Drogendeal beteiligt gewesen zu sein, und Löhr soll seine Unschuld beweisen. Widerwillig macht sich der Ex-Kommissar an die Ermittlungsarbeit, dabei ist er eigentlich gerade einem Kölner Skandal auf der Spur, der seinen geliebten Kohlmeisen den Nistplatz streitig macht …
Textbeispiel:
Prolog
Der Hall schneller Schritte lässt Löhr, der im Café „Zero“ auf seinem Stammplatz sitzt, von seiner Zeitung aufblicken, noch bevor er etwas sieht. Es sind laute Schritte, denn es ist nach ein Uhr und die Engelbertstraße liegt im Frieden einer lauen Mai-Nacht. Das „Zero“ ist das einzige Lokal, das in diesem Straßenabschnitt noch aufhat; der quadratische gelbe Lichtschein, der durch seine Fensterfront auf den Bürgersteig davor fällt, bildet hier die einzige Beleuchtung. Die nächste Straßenlaterne ist seit Wochen außer Betrieb. Die Schritte kommen näher, werden noch lauter, hallen durch die leere schwarze Straße wie im „Dritten Mann“; es sind sehr hastige Schritte, da haut einer ab. Jetzt sieht Löhr ihn draußen jenseits der Scheibe am „Zero“ vorbeilaufen, einen dünnen jungen Kerl. Wusch, weg ist er. Löhr senkt den Blick wieder auf die Zeitung, doch muss er ihn gleich wieder heben. Denn aus der Richtung, aus der eben der Hall der einzelnen Schritte kam, ist jetzt lautes Getrappel zu hören. Viele Schritte. Viele Leute. Unmutig sieht Löhr hinaus. Er liebt keine Störungen, insbesondere keine nächtlichen. Doch statt der Verursacher des Getrappels erscheint plötzlich wieder der Junge in der offenen Tür des Lokals. Eine Sekunde sehen er und Löhr sich in die Augen. Es ist ein unansehnlicher Bengel mit einem Frettchengesicht, das vorwiegend aus Schneidezähnen und einer niedrigen Pickelstirn besteht. Und zack, springt er ins „Zero“ hinein, zack ist er im hinteren Bereich, vorbei an der Theke, hinter der Andrea traumverloren Gläser poliert und verschwindet in den Toiletten. Er muss schon einmal hier gewesen sein und wissen, dass man durch ein Toilettenfenster hinaus in den Hinterhof kommt und dort, wenn man Glück hat, eine offene Kellertür findet.
„Wie gesagt, Frau Polizeiobermeisterin, ich habe nichts gesehen.“
„Aber Sie sitzen doch gleich neben der Tür und er ist an Ihnen vorbeigelaufen!“ Die Polizistin mit dem blonden Pferdeschwanz sieht auf ihn herab wie eine Volksschullehrerin auf einen begriffsstutzigen Siebenjährigen.
„Ich habe Zeitung gelesen“, erklärt Löhr geduldig.
„Aber wenn jemand in fünfzehn Zentimeter Abstand an einem vorbeirennt, dann schaut man doch mal auf!“
„Ich nicht“, sagt Löhr. Als er sieht, wie Zorn die anfängliche Fassungslosigkeit aus der Miene der Polizistin vertreibt, fügt er beschwichtigend hinzu: „Tut mir leid.“
Es ist einige Jahre her, da gab es hier eine ganz ähnliche Situation. Da saß er an genau demselben Tisch und las Zeitung, da stürmte statt eines pickligen Jungen eine junge Frau ins „Zero“ und kurz hinter ihr ein Kerl mit einer Schrotflinte. Damals hat er sich eingemischt. Mit der Folge, dass ein Riesentheater mit Mord und Totschlag daraus wurde. Und eine verkorkste Liebesgeschichte als Zugabe. Heute tut Löhr alles, damit so etwas nicht noch einmal passiert.
„Na schön“, resigniert die Polizistin beleidigt. „Vielleicht kann uns der Kellner ja eine Beschreibung geben.“ Sie deutet auf Andrea, der gerade mit einem anderen Polizisten aus dem Toilettenbereich zurückkommt, wo er ihm das Fenster gezeigt haben wird, aus dem das Frettchen entkommen ist. Andrea war damals, als die junge Frau ins „Zero“ stürmte, auch dabei. Er stand hinterm Tresen, polierte Gläser und kriegte beim Hinterherstarren den Mund nicht mehr zu. Die Frau war ziemlich attraktiv. Löhr erinnert sich gut an sie.
„Das wird er bestimmt“, sagt er laut zur Polizistin und sieht ihr hinterher, wie sie zum Ende des Tresens geht, wo ihr Kollege schon mit der Befragung Andreas begonnen hat. Löhr stemmt sich vom Tisch hoch, steht auf, faltet die Zeitungen zusammen und beginnt dann damit, die Rollladen der Außenfront herunterzulassen. Das tut er jede Nacht nach eins, wenn das „Zero“ schließt und seitdem er es von Hugo, dem italienischen Vorbesitzer, übernommen hat. Von Hugo übernommen hat er auch dessen Sohn Andrea, weil er den, wie Hugo sagte, nirgendwo anders unterbringen könne. Der sei so dämlich, dass es bei ihm nur zum Kellnern lange. Die Auffassung des Vaters, dass Andrea dämlich ist, teilt Löhr nicht so ganz; jedenfalls ist er als Kellner brauchbar und unverzichtbar sogar als derjenige, der einen guten Kontakt zur nach wie vor italienischen Stammkundschaft pflegt. Doch mit der Geschäftsführung des Ladens, das sieht Löhr inzwischen ein, ist er offensichtlich überfordert. Seitdem Carla vor einem halben Jahr mit der Tageskasse verschwand, sucht er einen Ersatz für sie, schiebt es aber immer wieder auf die lange Bank. Er trägt die gelesenen Zeitungen noch zum Altpapierstapel, dann geht er zur Tür, dreht sich noch einmal zu Andrea um, der, deutet man seine Gesten, den beiden Polizisten offenbar einen ganzen Roman über das Frettchen erzählen kann.
„Schließt du ab, Andrea?“
„Klar, mach ich, Chef.“
„Und vergiss nicht, die Kühlung runterzustellen und alle Lichter auszumachen.“
„Nein, vergess‘ ich nicht, Chef.“
„Nur nicht die Außenreklame. Die bleibt an.“
„Ich denke daran, Chef!“
Löhr verlässt das „Zero“ und nimmt sich auf dem Nachhauseweg vor, Andrea morgen mal eine Standpauke zu verpassen. „Op der Dud nit!“ hört er sich laut den Satz seiner Mutter wiederholen, der sanft wie eine Botschaft aus weiter Ferne an sein inneres Ohr dringt. Da hat sie recht. Er kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn ihn jemand als „Chef“ anredet.
1. Kapitel
Das Himmelsrechteck über der Mozartstraße strahlt im durchsichtigen hellen Blau des frühen Morgens, das verspricht einen weiteren heiteren Frühlingstag. Allerdings ist es noch ziemlich kühl und Löhr hat sich den dicken blau-grün-rot gestreiften Frottee-Bademantel übergezogen, um auf seinem Ansitz nicht frieren zu müssen. „Ansitz“, so nennt er den Korbstuhl im östlichen Winkel seines Balkons, von dem aus er seit etlichen Jahren das Treiben der Vögel am Himmel und in dem dreieckigen kleinen Park schräg unter dem Balkon zu beobachten pflegt.
Der Übergang in die „kontemplative Phase“ seines Lebens, wie es sein philosophierender Freund Hubert Lantos einmal nannte, war Löhr leichter gefallen, als er es sich anfangs vorgestellt hatte. Die letzte Etappe seines Polizeidienstes allerdings war ein einziges Chaos gewesen; er hatte sich total verrannt, war blind und mit aufgeblähter Weltverbesserer-Brust in die Gerechtigkeitsfalle gerannt. Dass sich inzwischen die halbe Welt darin befindet, kann ihn jetzt nicht mit Genugtuung erfüllen. Er hat erfahren, dass es eine Sackgasse ist, sich anderen gegenüber für moralisch überlegen zu halten und sich zum Richter über sie zu machen. Wenn man das Recht in seine eigene Hand nimmt, Selbstjustiz übt und dabei zum Mörder wird wie er es damals wurde, folgt daraus nicht unbedingt so etwas wie ein Wohlbehagen. Nicht etwa, dass er so etwas wie ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Von seinem Gewissen hat er seit seiner letzten Beichte nichts mehr gehört, zumindest nicht von der ihm eingetrichterten katholischen Spielart. Da war er dreizehn. Das Unschöne lag vielmehr darin, dass der Zorn, den er mit seiner Tat hatte ablassen wollen, sich nicht abschütteln ließ, sondern im Handumdrehen wieder da war. Ohne Hemmung hätte er gleich den nächsten Drecksack erschießen können, der meint, sich auf Kosten des Allgemeinguts bereichern zu können.
Man braucht kein Genie zu sein, um einzusehen, dass es keine Lösung ist, die Welt besser zu machen, indem man sie entvölkert. Da er andererseits aber auch als Polizist keinen erfolgversprechenden Weg zur Herstellung von Gerechtigkeit mehr sah, zumindest nicht in einer von Korruption beherrschten Stadt wie Köln, hatte er sich pensionieren lassen. Was allerdings nicht so einfach gewesen war. Das erste spontane, vom Zorn auf die Sinnlosigkeit der weltlichen Rechtsordnung diktierte Kündigungsschreiben nahm er auf Rat seines ihm in geistiger Verwandtschaft väterlich zugewandten Vorgesetzten Fischenisch zurück. Er hätte ohne einen nennenswerten Pensionsanspruch dagestanden. Also schob er im Einbruchsdezernat zähneknirschend noch ein Jahr Dienst nach Vorschrift, womit er zwar das Frühpensionsalter erreichte, sich aber bloß ein erbärmliches Einkommen sichern konnte. Deshalb zuckte er nur ein ganz kleines Bisschen, als ihm Hubert Lantos die Hälfte des Geldes anbot, die sie gemeinsam mit einem kühnen Spekulationscoup Gottfried Klenk abgenommen, also auf halbwegs legale Weise gestohlen hatten. Schließlich spielte Klenk im Kölner Korruptions-Karussell eine überragende Rolle und Löhr rechnete und rechnet es sich immer noch hoch an, ihn über Jahre zu seinem Intimfeind gehabt und am Ende über den Tisch gezogen zu haben.
Eine halbe Million ist ein zwar nettes, aber auch irgendwie zu dickes Polster, um es auf einem Sparbuch schrumpfen zu lassen. Sein Freund Lantos, der nicht nur Schachspieler, philosophierender Lebenskünstler, Familienvater und neben vielem anderen im Hauptberuf auch ein mit allen Wassern gewaschener Börsenzocker ist, wusste auch da einen Rat. Hubert und er hatten sich durch ein Ereignis kennengelernt, an das Löhr nicht allzu gerne zurückdenkt, weil es ihn an einen der Tiefpunkte seiner Trinkerkarriere erinnert. Bei einer von ihm in mehr als angeheitertem Zustand angezettelten Schlägerei vor einer Kneipe war der zufällig vorbeikommende Hubert Lantos eingeschritten und hatte Löhr durch einen schlichten Schwitzkastengriff davon abgehalten, weiteres Unheil anzurichten. Da Lantos über die Autorität einer gewaltigen 100-Kilo-Statur verfügt, gab es für Löhr keinen Grund, ihm wirklich böse zu sein. Beim anschließenden Versöhnungs- und Kennenlern-Kölsch stellte sich heraus, dass Lantos sein Börsenmakler-Büro gleich neben Löhrs Stammcafé „Zero“ auf der Engelbertstraße hatte. Seitdem trafen sie sich dort regelmäßig und als irgendwann einmal feststand, dass Hugo, der Inhaber dieses Cafés, keinen rechten Spaß mehr an dem Laden hatte und sein Lebensende in seiner apulischen Heimat verbringen wollte, war es Hubert Lantos, der Löhr dazu riet und ihm dabei half, den Laden zu übernehmen.
Lantos also verdankt er die beste Entscheidung der letzten Jahre. Denn ohnehin war das „Zero“ seit einiger Zeit schon zu seinem Wohnzimmer geworden, – warum sich nicht ganz darin niederlassen? Zumal er damals mit Carla liiert war, die sich als ideale Geschäftsführerin erwies. Denn zum Wirt, soviel Realitätssinn besaß er damals immerhin, hat er wahrhaftig kein Talent. Dafür aber, und das zeigte sich bald, eines für den Müßiggang. Und als sein Freund Lantos ihm ein halbes Jahr nach der Übernahme des „Zero“ bestätigte, ihm sei der Übergang in die „kontemplative Phase“ seines Lebens glänzend gelungen, hatte er nichts gegen diese Sicht der Dinge einzuwenden gehabt.
Tiefziehende und allmählich kompakter werdende Schleierwolken verunreinigen das kräftiger werdende Blau des Himmels. Abgesehen davon, dass sie vielleicht ein herannahendes Tief ankündigen, stören sie Löhr, denn sie behindern die Beobachtung seines morgendlichen Lieblingsobjekts, den Flug der Mauersegler. Die Mauersegler sind im Lauf der letzten Jahre seine Favoriten geworden. Anfangs fielen sie ihm gar nicht auf; bis dann ein Sommer kam, an dem der Himmel so voll von ihnen war, so, dass er gar nicht anders konnte, als hinaufzuschauen und dann war er sehr schnell begeistert von ihren blitzschnellen Flugbewegungen mit den überraschenden Richtungsänderungen. Doch dass in jenem Sommer so viele Mauersegler zu sehen waren, hat sich mittlerweile als ein zufälliges Ereignis erwiesen. Die Zahl der Mauersegler in der Stadt ist drastisch zurückgegangen. Ganze sechs aus ihrem afrikanischen Winterquartier in den letzten Apriltagen zurückgekehrte Flitzer hat Löhr im Himmelsrechteck über seinem Innenstadtquartier gezählt. In den vergangenen Jahren waren es mal acht, mal zehn gewesen. Es braucht schon viel Glück und das heißt vor allem günstige Brutbedingungen, wenn sich die Zahl Ende Juni, Anfang Juli durch die dann mitfliegenden Jungvögel verdoppeln soll.
Ein rascher Flügelschlag und ein schrilles „tsi-da … tsi-da“ ganz in der Nähe seines Balkons lenken Löhr von seiner Mauersegler-Schau ab. Er greift zu dem auf dem Abstelltisch neben ihm bereitliegenden Fernglas und wendet seine Aufmerksamkeit seinen zweitliebsten Vögeln zu, den Kohlmeisen. Sie bewohnen – natürlich neben Vertretern anderer Vogelarten und einigen Eichhörnchen – den kleinen Innenstadtpark gleich unter ihm. Wobei „Park“ ein sehr hochtrabender Begriff für das Dreieck vernachlässigten Rasens ist, das von einem Pisshäuschen in seiner Mitte beherrscht wird. Neben dem Pisshäuschen gibt es sechs von Sträuchern umstandene Parkplätze und umgrenzt wird das Ganze von ein paar Bäumen. Genau genommen handelt es sich um achtzehn Platanen, sechs an der Basis des Dreiecks auf der Engelbertstraße, jeweils sechs an seinen beiden von der Mozart- und der Beethovenstraße gebildeten Schenkeln. Würde man den Stadtplan zu Rate ziehen, handelt es sich bei dem Dreieck nicht um einen von Parkplätzen gesäumten Pisshaus-Standort, sondern um einen „Platz“. Dem gaben die Stadtoberen vor ein paar Jahren, statt ihn wie sonst in Köln üblich, mit Altglas-Containern zuzustellen, sogar einen Namen: Yitzhak Rabin Platz. Dass Löhr diesen Platz seiner Trostlosigkeit zum Trotz hartnäckig „Park“ nennt, hat mit dessen Fauna zu tun. Und darin besonders eben mit den Kohlmeisen, die hier einen idealen Ort für ihre Brutstätten gefunden haben. Was wohl darauf zurückzuführen ist, dass andere Vogelliebende Nachbarn im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Vogelhäuschen an den Stämmen der Platanen angebracht haben. Vogelhäuschen, die aus irgendeinem Grund bevorzugt von den Kohlmeisen benutzt werden. Jetzt, Mitte Mai, ist die Zeit, in der die Meisenweibchen aus Grashalmen, Blättern und kleinen Federn ihre Nester in den Häuschen gebaut und darin ihre Eier abgelegt haben. Und sehr bald, vielleicht schon morgen, freut sich Löhr, fängt dann auch die Zeit an, in der für beide Eltern die Aufzucht der Jungen beginnt. Ganze Tage wird er dann mit dem Fernglas vor den Augen auf dem Balkon verbringen.