Ries Roowaan, Amsterdam, verlorene Stadt

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Ries Roowaan, Amsterdam, verlorene Stadt. Roman. Deutsch von Gerd Busse. Elsinor-Verlag. 176 Seiten. 17 Euro https://www.elsinor.de/elsinor https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/lesefruechte/amsterdam-verlorene-stadt-ries-roowaan-100.html

Der niederländischer Autor Ries Roowaan widmet sich aus einer originellen Perspektive den Problemen, die der Massentourismus seiner Heimatstadt Amsterdam beschert: Sein Erzähler, der Klavierlehrer und Frauenverehrer Leo Hogeler, ist tot. Hollywood hat schon lange den Dreh raus, Geschichten aus der Perspektive von Toten zu erzählen, romantisch-kitschig in „Ghost. Nachricht von Sam“, sehr sanft und eindringlich in „The Sixth Sense“, in dem Bruce Willis einen toten Therapeuten spielt, der trotzdem – oder gerade deswegen – seinem neunjährigen Patienten die Alpträume nehmen kann. Der niederländische Autor Ries Roowaan benutzt diese interessante Perspektive, um in einer Mischung aus Thriller und Komödie den bei einem Terroranschlag getöteten Erzähler Leo auf Spurensuche nach den Tätern zu schicken. 

Spätestens seitdem die Stadt Venedig Eintritt für den Besuch von Touristen verlangt, ist das Problem der vom Massentourismus überfluteten Kommunen virulent. Vornehmlich allerdings als Problem der Touristen, die jetzt dafür zahlen müssen, was sie bisher als ihr natürliches Recht betrachteten. Die Perspektive der von den Hotspots des internationalen Wochenend-Ausflügler-Stroms heimgesuchten Bewohner, der indigenen Opfer also des modernen Freizeit-Kolonialismus, bleibt dagegen weitgehend ausgeblendet.

Wie war er nur in diesem Ferienpark gelandet? Warum konnte Amsterdam keine normale Stadt mehr sein mit Häusern, Büros und Fabriken? Wann war die Hauptstadt zu einer Dependance von Disney World geworden, einem hedonistischen Irrenhaus, in dem die Jugend aller Länder jede Sünde ausprobierte, die sie zu Hause nicht einmal beim Namen zu nennen wagte?

Fragt sich Jan Jansen, der Protagonist in Ries Roowaans Roman, ein mittlerer städtischer Angestellter, der vor 30 Jahren für sich und seine Familie ein Haus im beschaulichen Amsterdamer Weteringviertel kaufte. Jetzt kann er keinen Schritt vor die eigene Haustür mehr tun, ohne in die weggeworfenen Junkfood-Reste oder gar die Kotze der Touristen zu treten, die Tag für Tag und Nacht für Nacht über seine Stadt herfallen wie die Heuschrecken. 

„Ich will hier nicht weg. Und Maya und die Kinder wollen es auch nicht. Das ist meine Stadt! Warum sollte ich vor den Fremden fliehen?“ – Jan hatte das Gefühl, dass ihm sein Geburtsrecht genommen wurde und er weigerte sich, das tatenlos hinzunehmen.

Und das ist der Angelpunkt des Romans: dass ein ganz normaler Bürger einer vom Massentourismus aus den Angeln gehobenen Stadt es nicht mehr hinnehmen will, auf diese Weise seiner Heimat – und auch seiner Nachbarschaft beraubt zu werden. Vor allem sind es nämlich die Nachbarn, die ihm abhandenkommen, denn eine Wohnung, ein Haus nach dem anderen um ihn herum wird in ein Airbnb-Quartier verwandelt und von Fremden bewohnt. – Was aber ist zu tun, um sich gegen den Heuschreckentourismus zu wehren?

Ganz einfach: Amsterdam musste wieder gefährlich werde. Aber wie wird eine Stadt gefährlich? Wie macht man Amsterdam gefährlich? Die Kriminalitätsrate sinkt seit Jahren, in der Innenstadt ist die Polizei rundum die Uhr präsent, dort ist es sicher. – Eigentlich gab es nur eine Möglichkeit, und die bestand in einem Terroranschlag.

Und eben mit diesem Terroranschlag beginnt der Roman. – Der Erzähler, der Klavierlehrer und Schwerenöter Leo Hogeler hat sich Minuten davor in der Hoofstraat, der Shoppingmeile Amsterdams ein teures Jackett gekauft – da gibt es einen Knall und sowohl das Jackett wie Leo gibt es nicht mehr. Verdutzt betrachtet Leos Geist seine rund um einen Papierkorb versstreuten Leichenteile. – Das ist ein rasanter Einstieg und eine originelle Erzählperspektive. Leider macht Ries Roowaan nicht allzu viel daraus. Die jenseitige Perspektive seines Erzählers erlaubt es ihm zwar, den Gedankengängen seines Freundes Jan Jansens, des allerdings nur vermeintlichen Attentäters, zu folgen. Eine konsistente Geschichte wird daraus aber leider nicht. – Erinnert man sich etwa an die überirdischen Fähigkeiten Heinz Rühmanns im Film „Ein Mann geht durch die Wand“, kann man ermessen, welches – auch komische – erzählerische Potential hier verschenkt wurde. Trotz seiner erzählerischen Schwächen machen der interessante Plot wie die originelle Erzählperspektive Roowans Roman über viele Seiten zu einem Lesevergnügen.

WDR5 Bücher 17. und 18. August 2024