Pascal Garnier: An der A26. Aus dem Französischen von Felix Meyer. Septime Verlag. 117 Seiten. 19 Euro.
http://www.septime-verlag.at/Buecher/buch_an_der_a26.html
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/krimi-check/an-der-a-26-pascal-garnier-100.html
Bernard lebt seit fünfzig Jahren mit seiner verrückten Schwester Yolande zusammen. Als der Arzt ihm ein finales Krebsstadium attestiert, beginnt er, Frauen umzubringen. Doch erst sein plötzlicher Tod setzt eine Handlung in Gang, die dem Genre „Krimi-noir“ alle Ehre macht. – Verlage kleben aus verkaufsfördernden Absichten gerne das Etikett „noir“ auf ihre Krimis. Das soll an die „hardboiled“-Romane und -Filme der 1940er Jahre erinnern und an die pessimistische Weltsicht der sich dort herumtreibenden Privatdetektive. Eine etwas andere Färbung bekam das Genre durch die „Nonmaigrets“ von Georges Simenon oder die Mörder Patricia Highsmiths, die zu Identifikationsfiguren werden. In Frankreich, wo man den „polar noir“ hochhält, gehören Autorinnen und Autoren wie Yasmina Kahadra, Tanguy Viel und Fred Vargas zu den mehr oder weniger talentierten Vertretern dieses Genres. – Doch der bisher in Deutschland unbekannte und dankenswerterweise vom Septime-Verlag entdeckte, 1949 geborene und 2010 verstorbene Pascal Garnier schreibt in einer völlig anderen Liga. Er braucht weder Polizisten noch Privatdetektive, um in seinen dramaturgisch komplexen und atmosphärisch dichten Romanen die dunkelsten Seiten menschlicher Existenzen zum Vorschein zu bringen. Dass er das in unfassbar spannende Geschichten gießen kann, bescheinigt ihm seine englische Kollegin A.L Kennedy: „Eine berauschende, schmuddelige, klasse Lektüre“ schreibt sie über „An der A26“.
Wenn die Genre-Bezeichnung „Noir“ je einen Sinn hatte, dann erfüllt der sich in diesem kleinen Roman wie sonst in keinem. Allein schon der Handlungsort, das Innere eins völlig heruntergekommenen Hauses in der trostlosen nordfranzösischen Provinz, ist ein Ort der Düsternis schlechthin. Yolande, seine Bewohnerin, hat es vollständig verrammelt und blickt nur selten durch ein winziges Loch in einer Fensterlade nach draußen. Sie nennt es das „Loch zum Arsch der Welt“. Yolande ist verrückt, seit der Kneipenwirt André ihr als siebzehnjähriger vor fünfzig Jahren die Haare rasierte: Sie hatte was mit einem deutschen Soldaten gehabt.
Mit Yolande zusammen in dem völlig vermüllten Haus lebt neben einer wachsenden Schar Ratten ihr Bruder Bernard. Er arbeitet bei der Eisenbahn und hat, seitdem sie verrückt wurde, sein Leben an das seiner älteren Schwester gekettet und auf ein eigenes verzichtet. An Jaqueline, die Frau des jetzigen Kneipenwirts, bindet ihn bloß die gemeinsame Erinnerung an eine Jugendliebelei. Ansonsten lebt er im sexuellen Notstand. Nachdem der Arzt ihm ein finales Krebsstadium diagnostizierte, liegt es deshalb für ihn irgendwie nahe, bei zufälligen Begegnungen zwei Frauen zu vergewaltigen und ihre Leichen in der Baustelle der gerade entstehenden Autobahn zu entsorgen.
Morde, auch so beiläufig erzählte wie diese, gehören nun einmal zum Krimi-Label. Zwingend notwendig für die Dramaturgie von Pascal Garniers abgründig düsterem Roman sind sie nicht. Denn in dessen atemberaubend absurdem Showdown vollendet sich eine so raffiniert und äußerst dicht konstruierte Rache-Geschichte, dass es dem Leser dabei ohnehin schon kalt den Rücken hinunterläuft.
WDR5, Bücher 10. und 11. August 2024