Joseph Conrad, Nostromo. Roman. Übersetzt von Julian und Gisbert Haefs, mit einem Nachwort von Robert Menasse. Manesse-Verlag. 560 Seiten. 38 Euro
https://www.penguin.de/Buch/Nostromo/Joseph-Conrad/Manesse/e624045.rhd
https://www1.wdr.de/kultur/buecher/nostromo-joseph-conrad-100.html
Zum hundertsten Geburtstag Joseph Conrads am 3. August hat der Manesse-Verlag seinen Roman „Nostromo“ neu übersetzen lassen. Die Wahl fiel leider auf Julian und Gisbert Haefs, deren umständliche und altväterliche Sprache der Modernität des Romans nicht gerecht wird. Denn das 1904 erschienene Werk gilt trotz der nur auf den ersten Blick altmodisch wirkenden breiten Anlage der darin erzählten Geschichte als ein frühes Meisterwerk der modernen Literatur. Das verdankt es auch der Tatsache, dass er das Produkt einer Schreibkrise Conrads ist: Der Autor fühlte sich ausgebrannt, wusste nicht, was er als nächstes schreiben sollte. Sein Vorrat an selbst erlebten Geschichten war aufgebraucht. Der Umstand, dass „Nostromo“ dann das erste Werk Conrads wurde, das zwar „wahr“, also von tatsächlichen Ereignissen und Personen, aber nicht von Conrad selbst Erlebtem, handelte, führte dazu, dass Conrad ein neues Konzept von Roman entwickelte. Und eben das lässt „Nostromo“ zu einem modernen Roman werden: Einerseits wird eine politische, durchaus als Kolonialismus-kritisch zu verstehenden Geschichte über einen typisch südamerikanischen Militärputsch erzählt. Darin aber geht es um die innere Wandlung des Helden Nostromo, eines italienisch-stämmigen Hafenarbeiters, vom willigen Werkzeug der Mächtigen zu einem, der sie am Ende in einem großen Coup bestiehlt. Dass er im Augenblick seines „Erfolges“ per Zufall erschossen wird, macht ihn, so Robert Menasse im Nachwort, zu einem modernen, „existentialistischen“ Helden.
Als die Kutsche anfuhr, zog er abermals den Hut, einen grauen Sombrero mit silbernem Band und Quasten. Die riesigen Silberknöpfe an der bestickten Lederjacke, das schneeweiße Leinenhemd, die Seidenschärpe mit den bestickten Enden, – all das bekundete den unvergleichlichen Stil des berühmten Capataz de Cargadores, eines Matrosen vom Mittelmeer, der sich mit prächtigerem Glanz herausputzte, als ihn der wohlhabendste junge ranchero vom Campo je an einem hohen Festtag zur Schau gestellt hatte.
Erst nach weit mehr als 100 Seiten gewährt Joseph Conrad einen ersten Blick auf den Helden seiner Geschichte, den „Nostromo“ genannten „Capataz de Cargadores“, den Vorarbeiter der Lagerarbeiten in der Hafenstadt Sulaco. – Zuvor führte der Autor ganz im ausholenden Stil des „realistischen“ Romans des früheren 19. Jahrhunderts in die Topografie dieser fiktiven Stadt in der fiktiven südamerikanischen Republik Costaguana ein. Ebenso ausführlich beschreibt er die geografischen und ökonomischen Gegebenheiten dieser Stadt und die Menschen, die hier das Sagen haben. An erster Stelle den englischen Silberminenbesitzer Charles Gould und seine Frau, denn in der Silbermine in den Bergen über der Stadt ruht deren Reichtum. Und um den Silberschatz aus dieser Mine dreht sich die Geschichte des Romans. Die zweite wichtige Figur ist Kapitän Mitchell, Chef der ebenfalls britischen Schifffahrtsgesellschaft und auch Chef von Nostromo, einem hier gestrandeten italienischen Seemann. Sein Name ist die Verballhornung des italienischen nuostro uomo – „unser Mann“.
Er war ganz eindeutig einer jener unbezahlbaren Untergebenen, mit denen man renommieren darf, wenn man über sie verfügt. Kapitän Mitchell entwickelte aus diesem unschuldigen Stolz heraus eine Manie, allen möglichen Leuten „meinen Capataz de Cargadores auszuleihen“ – wodurch Nostromo früher oder später in persönlichen Kontakt mit jedem einzelnen Europäer in Sulaco kam, als eine Art universelles Faktotum, als Wunder an Effizienz in seinem Lebensumfeld.
Nach Georg Lukákcs berühmter Definition ist der Roman die „Form des Abenteuers des Eigenwertes der Innerlichkeit“, sein Inhalt die Geschichte der Seele, die auszieht, um sich kennenzulernen und die die Abenteuer aufsucht, um an ihnen geprüft zu werden. Auf den ersten Blick passt Joseph Conrads Roman exakt in diese Form. Denn Nostromo, das ergebene, zuverlässige Faktotum der durch und durch korrupten weißen reichen Oberschicht von Sulaco, gerät in ein Abenteuer, das ihm reichlich Anlass bietet, sich und den Wert seiner Innerlichkeit kennenzulernen: Der „Präsidialdiktator“ der Republik Costaguana wird gestürzt, der revoltierende „Pöbel“ macht Sulaco unsicher. Nostromo bekommt den Auftrag, seine reichen Auftraggeber vor ihm zu schützen und vor allem, den im Bergwerk lagernden Silberschatz vor den Handlangern des neuen Diktators in Sicherheit zu bringen. Das erstaunlich Moderne an Joseph Conrads Roman besteht darin, dass er dem Leser in keiner einzigen Zeile einen Blick in die „Innerlichkeit“ seines Helden gewährt. Immer werden er, sein Charakter und seine möglichen Beweggründe aus der Perspektive der anderen Romanfiguren gezeigt. Etwa der des Ingenieurs Decoud.
Ich nahm etwas Teilnahms- und Achtloses in dessen Ton wahr, charakteristisch für diesen Genueser Seemann, der – wie ich – zufällig hergekommen ist, um in die Ereignisse verwickelt zu werden, für die seine Skepsis ebenso wie die meine eine Art passiver Geringschätzung zu hegen scheint. Das Einzige, worauf er anscheinend Wert legt, soweit ich es habe herausfinden können, ist, dass man gut über ihn spricht. Ein edlen Seelen gemäßes Bestreben, aber auch förderlich für einen außergewöhnlich intelligenten Schuft.
Und tatsächlich zu einem „Schuft“ wird Nostromo, der bis dahin so zuverlässige Diener seiner Herren: Heimlich schafft er den Silberschatz auf Seite und versenkt, um seine Spur zu verwischen, das Schiff, mit dem er ihn transportierte. – Warum er das macht? Kein Wort erfährt der Leser über die Motive Nostromos. Dass Joseph Conrad einen Blick in die Innerlichkeit seines Helden konsequent verweigert, verschafft dem und damit auch dem ganzen Roman die Aura einer existentiellen Einsamkeit. Robert Menasse, der zur Neuauflage ein hervorragendes Nachwort geschrieben hat, erinnert das an Albert Camus‘ „Fremden“:
Joseph Conrads bleibende Aktualität begründet sich darin, dass er ein Menschenbild geschaffen hat, das die Zeiten überdauert, weil es sich immer wieder in seiner existenziellen Absurdität als allzu wahr erweist. So faszinierend beim Lesen und so deprimierend, wenn wir von der Lektüre aufschauen.
WDR 3 Kultur am Mittag 9. Juli