Franz Kafka, Betrachtung. Mit einem Nachwort von Vivian Liska. Suhrkamp/Jüdischer Verlag. 88 Seiten. 18 Euro
https://www.suhrkamp.de/buch/franz-kafka-betrachtung-t-9783633543328
https://www.chbeck.de/kilcher-kafkas-werkstatt/product/36362983
https://www1.wdr.de/kultur/buecher/kafka-betrachtung-100.html
Zum 100. Todestag von Franz Kafka hat der Suhrkamp-Verlag Franz Kafkas 1912 erschienenes erstes Buch neu aufgelegt. In den 18 Prosaminiaturen zeigt sich Kafka bereits als Protagonist der literarischen Moderne.
Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig konnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte.
Schon in seinem ersten, 1912 veröffentlichten Buch präsentiert sich Franz Kafka als der „typische“ Kafka. Die 18 hier versammelten Prosaminiaturen führen ins Zentrum seiner Schreibweise, seiner Weltsicht und seines Literaturverständnisses. Die zwischen 1903 und 1911 geschriebenen Texte stehen in keinem inneren inhaltlichen Zusammenhang, zumindest keinem offensichtlichen. Doch klingt bereits im harmlosen Titel des Buches, „Betrachtung“, die literarische Machart an, die sie verbindet: Der schreibende Betrachter – oft tut er das in der Ich-Form – reflektiert darin seine Sicht auf die Welt und seine Stellung darin. Dabei kippt die detaillierte Beschreibung der Außenwelt oft abrupt ins Befremdliche, manchmal Unheimliche und offenbart die grundsätzliche Verunsicherung des beschreibenden, betrachtenden Individuums.
Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.
Die Fähigkeit, dieses Grundgefühl der Verunsicherung auf prägnante, wenn auch verrätselte Weise in eine hoch konzentrierte Sprache verwandeln zu können, macht Franz Kafka zu einem herausragenden Vertreter der literarischen Moderne. Keineswegs entspricht er dem Klischee des somnambulen Nachtarbeiters, der schreibend seine Albträume verarbeitet. Vielmehr bewegt er sich, wie die Studie des Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher – „Kafkas Werkstatt“ – eindrücklich zeigt, intellektuell vollkommen auf der Höhe seiner Zeit. Und das heißt, dass der sich selbst als „gieriger Leser“ bezeichnende Kafka mit allen Themen und Theorien der Moderne befasst ist. In den Jahren, in denen er die Texte für „Betrachtung“ schrieb, beschäftigte er sich intensiv mit Psychoanalyse, mit der marxistischen Warentheorie, dem Jiddischen, seinem eigenen Judentum, dem Zionismus und nicht zuletzt mit den damals modischen okkulten Themen. Dass er die so empfangenen Eindrücke durchaus auch sehr humorvoll verarbeiten konnte, zeigt der Text „Unglücklichsein“: Nachdem dem Erzähler in seiner Wohnung ein Gespenst begegnete, berichtet er seinem Nachbarn davon:
»Was soll ich machen?« sagte ich, »jetzt habe ich ein Gespenst im Zimmer gehabt.« »Sie sagen das mit der gleichen Unzufriedenheit, wie wenn Sie ein Haar in der Suppe gefunden hätten.« »Sie spaßen. Aber merken Sie sich, ein Gespenst ist ein Gespenst.« »Sehr wahr. Aber wie, wenn man überhaupt nicht an Gespenster glaubt?« »Ja meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber dieses Nichtglauben?« »Sehr einfach. Sie müssen eben keine Angst mehr haben, wenn ein Gespenst wirklich zu Ihnen kommt.«
Auch wenn Andreas Kilcher in „Kafkas Werkstatt“ nachweisen kann, dass Lesen und Schreiben bei Kafka ein einziger Prozess war, seine intellektuelle Beschäftigung mit den Themen seiner Zeit also gleichsam in sein Schreiben einfloss: Nirgendwo finden sich in den in „Betrachtung“ versammelten Kurzerzählungen ein direkter Hinweis darauf. Alles ist hier wie auch im künftigen Werk Franz Kafkas zu hochartifizieller Literatur verdichtet. Und immer, das ist ihr besonderes und von Walter Benjamin herausgehobenes Kennzeichen, immer trifft Kafka alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die allzu einfache Auslegung seiner Texte. – Zur gängigen Deutung Kafkas gehört, ihm ein hermetisches und düster-pessimistische Weltbild zu unterstellen. Ein Vorurteil, wie bereits diese frühen Texte zeigen, in denen sich immer wieder Harmonie und Gemeinsamkeit herbeisehnende, also gleichsam utopische Gedanken finden.
Den Mond sah man schon in einiger Höhe, ein Postwagen fuhr in seinem Licht vorbei. Ein schwacher Wind erhob sich allgemein, auch im Graben fühlte man ihn, und in der Nähe fing der Wald zu rauschen an. Da lag einem nicht mehr soviel daran, allein zu sein.
WDR3 1. Juli 2024 Kultur am Mittag& Resonanzen