Das Ende einer Odyssee

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Heute muss Julian Assange vor Gericht. Auf den Marianeninseln nördlich von Australien – einem US-amerikanischen Hoheitsgebiet – entscheidet eine US-Richterin darüber, ob der Deal den Anwälten Assanges und der US-Justizbehörde in Ordnung ist. Demnach legt Assange ein Teilgeständnis ab, dass er spioniert hat, dafür wird seine 5-jährige Haft in England als Abbüßung seiner Gefängnisstrafe anerkannt. Mit dieser vom australischen Premierminister Anthony Albanese eingefädelten, überraschenden Wendung käme die Odyssee Julian Assanges zu einem Ende. 

Als Odysseus nach jahrzehntelanger Irrfahrt heimkehrte, war nicht gleich alles wieder in Butter. Zuerst einmal glaubte er die vermeintlichen Liebhaber seiner Frau umbringen zu müssen, was dann zu einem langwierigen Krieg mit deren Familien führte. Auch die Heimkehr des modernen Odysseus Julian Assange wird sich nicht als erlösender Triumphzug gestalten. Zumal ja noch offen ist, ob er wirklich in seine Heimat Australien heimkehren kann. Es liegt in der Hand der amerikanischen Richterin, ob sie sich dem vom US-Justizministerium vorgeschlagenen Deal – Geständnis gegen Anerkennung der 5-jährigen Haft in England – wirklich anschließen wird. Der australische Premierminister Anthony Albanese – der schwergewichtigste Unterstützer Assanges – ist da noch skeptisch.

Fest steht allerdings, dass sich in der Odyssee Julian Assanges gerade eine neuerliche überraschende Wendung vollzieht. Da es in dessen Geschichte fast ebenso viele solcher Wendungen gab wie in der des antiken Helden Odysseus, liegt der Vergleich nahe: Immer wieder drohte Assange tödliche Gefahr – die ihm angedrohten 175 Jahre Haft in den USA kamen einem Todesurteil fast gleich – und immer wieder konnte er ihr im allerletzten Augenblick entkommen. Den letzten, von niemandem mehr erwarteten Rettungsring warf ihm der britische High Court im Mai zu, als er die unmittelbar drohende Überstellung in die USA abwendete.

Vergleichen lässt sich Assanges Geschichte mit der des Odysseus auch, weil seine Anhänger sie sicher genauso atemlos verfolgten wie die Leser den Abenteuern des Homerischen Helden folgen. Und sich ebenso mit ihrem Helden identifizierten wie diese. Für sie war und ist Julian Assange seit seinen Wikileaks-Enthüllungen 2010 über die bewusst in Kauf genommenen „Kollateralschäden“ im Krieg der USA in Afghanistan der Held der Pressefreiheit. Seine unnachgiebige Verfolgung durch die US-Justiz und seine 5 Jahre währende menschenunwürdige Behandlung im englischen Hochsicherheitsvollzug – der UNO-Berichterstatter Nils Melzer sprach von psychologischer Folter – machten ihn zum tragischen modernen Helden schlechthin.

Doch mit Odysseus teilt Julian Assange auch die Eigenschaft, kein moralisch lupenreiner Held zu sein. So wie Homer seinen Helden nicht nur mit den allerfeinsten Charakterzügen ausstattet, verfügt auch Assange offenbar kaum über den allernobelsten Charakter: Dass er mit der ungefilterten Veröffentlichung geheimer US-Dokumente afghanische Informanten gefährdete, schreiben auch seine damaligen Mitarbeiter seiner egomanischen Eitelkeit zu. Und dass er von Putins Gnaden 2016 den Wahlkampf gegen Hillary Clinton befeuert haben soll, macht ihn, wenn das tatsächlich stimmt, zu einem mehr als problematischen modernen Helden. – Aber vielleicht ist der Begriff „Held“ ja gar nicht mehr zeitgemäß und außerdem hieß schon Homers Epos schließlich: Die Irrfahrten des Odysseus.

WDR3 Mosaik 26. Juni 2024