Der Karl-Marx-Hof in Wien. Das Modell des Gemeindebaus

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Kommt man in Wien-Heiligenstadt aus der U-Bahn auf den Busbahnhof, scheint auf den ersten Blick alles so wie bei den übrigen großstädtischen Endhaltestellen: Menschengewusel, abfahrende Busse, Autoverkehr. Erst beim zweiten Blick wird man gewahr, dass sich auf der anderen Straßenseite hinter einer Baumallee wie ein riesiger Fels ein mächtiges Gebäude erhebt. Eine Reihe massiver roter Türme überragt eine sechsstöckige gelbe Hausfront: Man glaubt sich einer Trutzburg gegenüber – und steht vorm Karl-Marx-Hof, dem größten Gemeindebau der Welt, einer im Jahr 1929 errichteten Wohnanlage für fünfeinhalbtausend Menschen. Doch durchschreitet man einen der imposanten bogenförmigen Durchgänge unter den mit Fahnenmasten bewehrten Türmen und gelangt in den Innenhof des Gebäudekomplexes, findet man sich in einer Parkidylle mit weiten Rasenflächen, gepflegten Rabatten und altem Baubestand wieder.

(Werner Bauer) Also genau genommen ist das nicht ein Innenhof, sondern ein Ehrenhof hier, es ist nämlich eine Schloss-Architektur hier.

Werner Bauer teilt sich mit seiner Frau Lilli das Kuratorenamt des Museums „Waschsalon“ im Karl-Marx-Hof, das die Geschichte des bald hundertjährigen Baus bewahrt und aufarbeitet.

(Werner Bauer) Das ist praktisch der Ehrenhof mit einem Denkmal, so, wie es sich‘s gehört. Und der Karl-Marx-Hof erstreckt sich dann links und rechts von uns, stadteinwärts und stadtauswärts – jeweils noch zwei Innenhöfe. Insgesamt ist die Anlage über einen Kilometer lang und das ist hier parkartig gestaltet und mittlerweile auch so etwas wie eine Naherholungszone. Ursprünglich war das eher so etwas wie ein Aufmarschgebiet.

(Lilli Bauer) Ich denke, es war immer auch ein bisschen Provokation. Vor allem zum Zeitpunkt der Erbauung des Karl-Marx-Hofs hieß er ja nur: Der Riesenbau an der Heiligenstädter Straße.

Es war das Vorzeigeobjekt der seit 1919 in Wien herrschenden Sozialdemokraten. Mit ihrer Wohnungsbaupolitik wollten sie die allgemeine und besonders die Arbeiterschaft treffende Wohnungsnot bekämpfen. Mehr als 90 Prozent der Wohnungen verfügten damals weder über ein WC noch über fließendes Wasser. Mehr als die Hälfte der Arbeiter hatten noch nicht einmal ein eigenes Bett, waren sogenannte Schlafgänger.

(Lilli Bauer) Und dann gab es dann so eine große Medien-Kampagne von den Christlich-Sozialen, d.h. von den politischen Mitbewerbern, wenn man so will, gegen diesen Bau. Und ich denke, als Reaktion auf diese Medien- und Hetzkampagne hat dann die Gemeindeverwaltung beschlossen, diesen Bau nach Karl Marx zu benennen.

(Werner Bauer) Die Sozialdemokratie hat hier auch sehr große, wichtige Veranstaltungen durchgeführt. Hier konnte man viele Leute versammeln und das hat natürlich auch einen wunderbaren Rahmen abgegeben, – eben mit diesen herausgehobenen Fahnentürmen und den Fahnenstangen war das natürlich ein sehr pathetisch aufgeladener Ort. – Man wollte natürlich hier auch ein Gegengewicht zum imperialen Wien schaffen und zeigen durch diese sehr herausgehobene, prachtvolle Architektur, dass man mittlerweile die Macht errungen hat. Und dieser Karl-Marx-Hof misst ja mehr als einen Kilometer und ist damit praktisch schon größer als Schloss Schönbrunn, – und das war natürlich schon sehr symbolisch aufgeladen.

Andrea ist über siebzig und hat ihr Leben lang im Karl-Marx-Hof gelebt.

(Andrea) Die Historie des Gemeindebaus in Österreich – der Gemeindebau in Österreich ist riesengroß und dass der Karl-Marx-Hof was ganz Besonderes ist, weil er weltweit bekannt ist, spielt natürlich auch eine Rolle. Und wenn Sie sich umschauen: Es ist wunderschön hier! Mit den großen Parkanlagen! Fast jede Wohnung hat einen Balkon hier, zumindest auf der Innenseite. Aber man hat es wirklich wunderschön. –  Dass ich innerhalb von Wien irgendwo anders hinziehen würde? Nein! – Weil meine Mutter mir die Wohnung übergeben hat, ich mich hier wohlfühle. Und ja, es ist meine Heimat! – Meine Mutter hat um eine Gemeindewohnung angesucht und hat aufgrund dessen, dass sie ein Parteibuch der Sozialistischen Partei gehabt hat, eine Gemeindebauwohnung zugewiesen bekommen und sie ist mit vier Kindern alleinerziehend hier eingezogen.

(Lilli Bauer) Damals wie heute musste man eine Bedürftigkeit nachweisen und natürlich gab es schon von Anfang an diese Unterstellung, dass hier nur Sozialdemokraten eine Wohnung bekommen würden.

Diese Kritik am österreichischen Gemeindebau ist nicht verstummt. Wer einmal in einer Gemeindebauwohnung sitzt, lautet sie, wird sie nicht nur nie verlassen, er wird auch versuchen, sie sozusagen an die Kinder und Kindeskinder weiter zu vererben. – Um das möglichst zu verhindern, hat man bestimmte Kriterien für die Wohnungsvergabe eingeführt. – Die SPÖ-Politikerin Waltraud Karner-Kremser ist im derzeitigen Wiener Gemeinderat und dort als Vorsitzende des Ausschusses für Wohnen und Wohnbau zuständig für den von der Gemeinde geförderten Wohnraum.

(SPÖ-Stadträtin Waltraud Karner-Kremser) Es haben etwa 75 Prozent aller Wienerinnen und Wiener Anspruch darauf, darinnen zu wohnen. Da gibt es ein paar Vergabekriterien, die beginnen damit, dass man 18 Jahre alt sein muss, dass man die letzten zwei Jahre mindestens seinen Hauptwohnsitz in Wien haben muss, dass in der Regel ein Wohnbedarf da sein muss und es gibt eine Grenze, was man verdienen darf, die ist relativ hoch, nämlich ein Netto-Monatseinkommen von 3.810 Euro für eine Person. Da könnte man jetzt sagen: Das ist ein relativ hohes Einkommen und das wollen wir auch so, weil wir sagen: In Wien leben wir unglaublich viel Wert auf einen sozialen Frieden und das gelingt uns nur mit einer sozialen Durchmischung. Und wir sagen auch immer sehr salopp: In Wien erkennt man nicht an der Wohnadresse, was jemand verdient.

(Sami) Das ist am besten: Ich hab‘ so viele Nachbarn. Die sind eigentlich sehr gut, sehr nett. Manche sind früher nicht, sie waren nicht so gut, aber ich hab immer gelacht und dann sie haben gerade mit mir sehr gut und sehr nett auch.

Die Iranerin Sami lebt mit ihrem Mann und ihren schulpflichtigen Kindern im Karl-Marx-Hof. Dessen bauliche Konzeption, besonders die Struktur der beiden rechts und links an den mittleren „Ehrenhof“ angegliederten, von vier Seiten mit Wohnhäusern umbauten Innenhöfen mit großen Rasenflächen, vielen Sitzbänken und zahlreichen Kinderspielplätzen kommt auch Sami, die erst seit sieben Jahren in Österreich lebt, entgegen.

(Lilli Bauer) Wir befinden uns jetzt hier in Hof Nummer 3. Und das, was typisch für den Wiener kommunalen Wohnbau ist und was uns auch etwas unterscheidet vom sozialen Wohnbau in Deutschland, ist diese typische Randbebauung, wo ein Grundstück eben nur am Rand bebaut wird. – Man hat diese Randbebauungsmodelle deswegen gewählt, weil man hier auch eine Ruhezone für die Bewohnerinnen und Bewohner schaffen wollte.

(Werner Bauer) Eines der Grundprinzipien ist diese Verbindung von Schlossarchitektur und dieser Hofarchitektur, die sich eigentlich orientiert an Klosteranlagen, die ja schon seit dem Mittelalter bestanden: Alle Zugänge sind immer von innen her, so dass also die Eltern unbesorgt ins Freie lassen konnten ohne Angst zu haben, dass sie auf der Straße landen.

(Lilli Bauer) Das war das Grundprinzip, dass man diese Gemeindebauten in Stiegen unterteilt hat und auf jeder Stiege hat man dann auf jedem Stockwerk nur noch drei bis vier Wohnungen untergebracht, so dass das Ganze auch ein bisschen kleinteiliger und übersichtlicher wird.

„Stiege“ nennt man in Österreich nicht nur die Treppe, sondern meint damit auch das „Stiegenhaus“, also ein Wohnhaus. Insgesamt 100 gibt es davon im Karl-Marx-Hof.

(Werner Bauer) Hier gibt es zwischen dem ersten und dem zweiten Hof und dem dritten und dem vierten Hof jeweils eine kurze Stichstraße als Durchfahrtsmöglichkeit. Und hier sind dann jeweils die wichtigsten dieser vielen Infrastruktureinrichtungen vorhanden. Auf der einen Seite ein Kindergarten und auf der anderen Seite der Waschsalon. Kindergärten waren natürlich sehr wichtig, denn man wollte nicht nur den Frauen die Möglichkeit geben, einen Beruf auszuüben und sie dadurch vor der reinen Kinderobsorge zu befreien. Sondern man wollte vor allem auch die Kinder sehr früh einer fortschrittlichen modernen Erziehung, – meistens nach Montessori-Prinzipien ausgestaltet, zuführen. D.h. die Möglichkeit bestand, ab 3 Jahren, dass man die Kinder in den Kindergarten gibt. Damals schon! Das waren Ganztagskindergärten.

(Irena) Ich hab‘ drei Kinder. Zwei sind da gegangen und einer unten – da gibt’s ja noch einen unten. Aber ich bin zufrieden. Da ist auch ein Hort, nicht nur Kindergarten. Und von oben kommen die Kinder von der Schule und dann sind sie halt nachmittags da, betreut. Kindergarten eine Seite, eine Seite Hort.

Die Kinder von Irena, die seit 1992 im Karl-Marx-Hof lebt, sind inzwischen erwachsen. Jetzt gehen ihre Enkel in den angegliederten Hort. – Gegenüber der beiden zweistöckigen Gebäuden, die Hort und Kindergarten beherbergen, befinden sich ebenso große und ähnlich gestaltete Komplexe, in denen sich die berühmten Waschsalons des Karl-Marx-Hofs befinden. Sie sind immer noch in Betrieb.

(Irena) Ja, ja, die Waschräume nutzt man. Also Jahre lang hab‘ ich benutzt. Jetzt hab‘ ich seit ein paar Jahren einen Trockner. Die anderen Leute kommen von den anderen Stiegen, aber es wird benutzt. Viele Leute waschen, die keine Waschmaschine haben. Da gibt’s größere Waschmaschinen und Trockner.

(Lilli Bauer) Im Erdgeschoss konnten die Bewohnerinnen und Bewohner ihre eigene Wäsche waschen. Beziehungsweise waren es nur Bewohnerinnen, weil nur Frauen da Zutritt hatten damals. Und im Obergeschoss gab es dann eine Räumlichkeit mit Brause- und Wannenbädern, weil die Wohnungen in der ersten Republik zwar mit allem, was man brauchte, ausgestattet waren, aber nicht mit eigenen Bädern. Es gab natürlich fließendes Wasser und Toiletten in den Wohnungen. Aber keine eigenen Bäder, Gebadet und geduscht hat man dann hier.

Die Etagen mit den Bädern gibt es heute nicht mehr – beziehungsweise in einer von ihnen befinden sich jetzt die Räumlichkeiten des von Lilli und Werner Bauer kuratierten Karl-Marx-Hof-Museums „Waschsalon“. Die andere steht leer. – Mit Hilfe eines günstigen Kredits konnten die Bewohner in den 1950er Jahren Nasszellen in die geräumigen Küchen ihrer Wohnungen einbauen lassen. Allerdings sind und waren die ursprünglich fast 1.300 Wohnungen relativ klein, im Schnitt ist kaum eine größer als 60 Quadratmeter. Darum werden die Waschsalons immer noch häufig frequentiert.

(Lilli Bauer) Die Mieterinnen und Mieter haben hier regelmäßig einen Waschtag, sie brauchen einen Termin dafür. Sie haben einen kleinen Chip und wenn sie einen Termin haben, kommen sie mit dem Chip hinein. In diesen Kabinen verbergen sich jeweils eine große Waschmaschine und ein großer Trockner. – Also in der Ersten Republik gab’s diese Kabinen nicht, da standen die Waschmaschinen in diesem großen Raum frei herum. Die männlichen Ingenieure haben sich das so ausgedacht, dass es der Hausfrau möglich sein sollte, die Wäsche von vier Personen und vier Wochen innerhalb von vier Stunden gewaschen, getrocknet und gebügelt zurück in die Wohnung zu bekommen. Was grundsätzlich auch möglich war.

Doch setzte das enge Zeitfenster und die strenge Kontrolle der Waschinspektoren die Frauen unter Druck, wie viele Zeitzeuginnen berichteten. Hausarbeit war damals auch in sozialdemokratisch aufgeklärten Familien allein Frauensache. Damit fiel ein Schatten auf die gute Absicht, die hinter den vielen übrigen Gemeinschaftseinrichtungen im Karl-Marx-Hof stand. Denn neben Waschsalons und den Kindergärten gab es Jugendheime, Bibliotheken, eine Mütterberatungsstelle, eine Krankenstelle mit Ambulatorium, eine Zahnklinik mit angeschlossener Zahnpflegeberatung und diverse Gemeinschaftsräume für Versammlungen und Vorträge. – All diese Gemeinschaftseinrichtungen sollten nicht nur der Befriedigung individueller Bedürfnisse der Bewohner dienen, sie sollten im „Roten“, das heißt von den Sozialdemokraten von 1919 bis 1934 regierten Wien gleichzeitig auch die Gemeinschaft fördern und zum Gemeinsinn erziehen. Dafür stand die lebensgroße Bronzeskulptur in der Mitte des „Ehrenhofes“.

(Werner Bauer) Das ist der sogenannte Sämann. Also vom Aussäen. Und das ist ein bisschen ein seltsames Symbol, es steht natürlich für den, der die Saat für eine neue Gesellschaft aussät. Es ging natürlich dem Roten Wien auch immer darum, jetzt nicht nur eine bessere, sondern eine neue Gesellschaft zu errichten. Also man wollte eine Gesellschaft mit neuen Menschen, politisch aufgeklärten, gebildeten und körperlich möglichst gesunden Menschen. 

Allerdings gab es bereits unter den Zeitgenossen in den 1920er Jahren Kritik am ideellen Konzept des österreichischen Gemeindebaus im Allgemeinen und am Karl-Marx-Hof insbesondere. Lässt sich durch die vielen – mitunter streng reglementierten – Gemeinschaftseinrichtungen tatsächlich ein Gemeinschaftsgefühl der Bewohner herstellen? – Gunter, über siebzig und seit mehr als zwanzig Jahren Bewohner des Karl-Marx-Hofs, ist auch heute verhalten optimistisch, was die Ideale der Gemeinschaft und des Gemeinsinns betrifft.

(Gunter) Na ja! Das weiß ich nicht. Bei den unmittelbaren Nachbarn, na ja, vielleicht. Ansonsten sind natürlich viele Ausländer hier, die sitzen schon oft hier gemeinsam, aber ob das so ist wie früher weiß ich nicht. Wobei man nicht weiß, ob das nicht auch ein bisserl glorifiziert wird. Natürlich ist das Ganze so konzipiert, das mach man heut‘ wieder mit so kleinen Plätzchen, also das, was sie vor 80 Johr gemacht haben, das machen sie heut‘ wieder.

(SPÖ-Stadträtin Waltraud Karner-Kremser) Wohnen ist ja heute ein globales Spekulationsgeschäft: Banken, Fonds, Versicherungen investieren in Wohnraum und möchten dort möglichst viel Geld verdienen. Und in Wien sind wir immer einen anderen Weg gegangen. Wir haben, nicht so wie in München vor einigen Jahren oder in anderen Städten, Wohnraum verkauft. Sondern der ist immer als – ich sag das jetzt so salopp: Als Erbgut der Stadt geblieben. Nachdem die Sozialdemokratie seit mehr als hundert Jahren, natürlich unterbrochen von den beiden Faschismen, in dieser Stadt regiert, haben wir immer unsere Hand schützend darüber gehalten und es als ein Grundrecht angesehen. Es ist keine Handelsware, es ist ein Grundrecht.

Deutschlandfunk 23. Juni 2024