Marie-Hélène Lafon, Die Quellen

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Marie-Hélène Lafon, Die Quellen. Aus dem Französischen übersetzt von Andrea Spingler. Atlantis. 128 Seiten. 20,00€

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In Frankreich ist Marie-Hélène Lafon eine mit vielen Preisen gewürdigte Schriftstellerin. Jetzt ist ihr vierter ins Deutsche übersetze Roman erschienen. Wie alle bisherigen spielt er wieder im bäuerlichen Milieu der zentralfranzösischen Vulkanlandschaft Auvergne.

Mit „Die Quellen“ legt Marie-Hélène Lafon ihre ganz eigene, sehr leise und zurückgenommene Version von Autofiktion vor. Kein einziges Mal fällt hier das Wort „ich“ und läse man ihn nicht bis zur allerletzten Seite, würde man gar nicht merken, dass dieser kleine Roman autobiografische Bezüge hat. Er gliedert sich in drei Abschnitte mit drei unterschiedlichen Erzählstimmen. Die erste Ich-Erzählerin ist eine Bäuerin auf einem abgelegenen Hof in der französischen Vulkanlandschaft Auvergne, eine junge Mutter von drei kleinen Kindern.

Sie hätte Nein sagen, sich weigern sollen. Sie hätte gehen sollen, selbst schwanger, sie hätte mit den beiden Mädchen gehen sollen. Sie hat es nicht fertiggebracht. Sie kann nicht sagen, warum und wieso, die Macht war auf seiner Seite, sie folgte. Sie ist ihm gefolgt.

Während sie von der Stube aus beobachtet, wie ihre Kinder draußen unterm Ahornbaum spielen und ihr Mann ein paar Meter weiter im Freien auf einer Bank seinen Mittagsschlaf hält, lässt sie ihr bisheriges Leben Revue passieren. Stationen eines beharrlich wachsenden Unglücks ziehen an ihr vorbei: Schon in den ersten Tagen ihrer Ehe hat ihr Mann sie geschlagen und seitdem gibt es keine Woche, in der er sie nicht verprügelt, jeden Samstag, sobald die Kinder im Bett liegen. Sie und die Kinder leben in ständiger Angst vor ihm. Die Angst hat sie dazu gebracht, sich selbst aufzugeben, sich gehen zu lassen. Sie ist dick und faul geworden, verachtet sich deswegen selbst – und weiß keinen Ausweg. Doch als sie am nächsten Tag, einem Sonntag, mit der Familie zum üblichen Besuch auf dem Hof ihrer Eltern ist, überwindet sie sich endlich.

Sie ist aufgewühlt, ihr schwindelt, doch als ihre Mutter das Esszimmer betritt, beginnt sie zu sprechen, es dauert nicht lang, weil sie das Schlimmste gleich erzählt, ohne zu weinen, sie zeigt auch die blauen Flecken. Sie sagt, es ist vorbei, sie geht nicht wieder hinauf, nie mehr.

Im zweiten Abschnitt zieht der Mann, der zweite Erzähler, sieben Jahre nach der Scheidung Bilanz: Alle Kredite sind abbezahlt, den Betrieb auf dem Hof hat er im Griff, es läuft gut. Und die Frau? Er ist froh, dass sie weg ist. Er verachtet sie noch immer. Er lebt allein auf seinem Hof, hat sie ausbezahlt und zahlt für seine Kinder Unterhalt. Außerdem ist festgelegt, dass sie einmal im Jahr für zwei Woche hier hinaufkommen. Er ist mit sich zufrieden. Ihm fehlt es an nichts. – Den letzten Abschnitt bestreitet, mehr als 50 Jahre später, eine zweite Frauenstimme.

Der Hof ist leer. Das Haus ist verschlossen. Claire weiß, wo der Schlüssel ist, unter einer Schieferplatte hinter dem Stall, aber sie wird das Haus nicht betreten. Sie wird es nicht mehr betreten.

Claire, das ist die zweitälteste Tochter. Nach dem Tod der Eltern ist sie hierher, an eine ihrer Quellen, wie sie sagt, zurückgekehrt, um das Erbe zu liquidieren, den Hof an die neuen Besitzer zu übergeben. Claire ist neunundfünfzig Jahre alt, so alt wie die Autorin – und ganz offenbar deren Alter Ego. – Ohne Larmoyanz, ohne zu werten, fast protokollarisch kühl erzählt Marie-Hélène Lafon von ihrer frühen Jugend auf dem Land. Kühn spart sie ihre eigene Perspektive dabei aus, erzählt vermittelt über die Porträts der Eltern und überlässt es damit dem Leser, sich die Kindheit Claires und ihrer Geschwister auf jenem Hof vorzustellen. Gerade das aber macht „Die Quellen“ zu einem tief beeindruckenden Stück moderner Literatur. Diese Kindheit auf dem Land geht einem auch nach der letzten Seite lange nicht aus dem Sinn.

WDR 5 Bücher 8. Juni 2024