Während der bereits laufenden Deportation von hunderttausenden ungarischer Juden nach Auschwitz verhandelt die kleine zionistische Untergrundgruppe Wa’ada mit Adolf Eichmann über die Rettung der noch in Budapest Verbliebenen. Am 17. Mai 1944 verlässt der Wa’ada-Unterhändler Joel Brand Budapest in Richtung Istanbul mit Eichmanns Auftrag, dort mit den Vertretern eines vermeintlichen „Weltjudentums“ über ein makabres Tauschgeschäft zu verhandeln: Für die Lieferung von 10.000 Lastkraftwagen verspricht Eichmann 100.000 ungarische Juden freilassen. In Brands Abwesenheit verhandelt Rezsö Kasztner von der Wa’ada weiter mit Eichmann. Gegen umgerechnet 7 Millionen Schweizer Franken gelingt es ihm, ihm einen „Probezug“ mit 1.684 Menschen abzuringen. Am 30. Juni verlässt der Zug Budapest, zuerst Richtung Bergen-Belsen. Am 6. Dezember kommt er in der Schweiz an.
Er war bereit, mir „eine Million Jud“ zu verkaufen. (schreit): ‚Ware für Jud, Jud für Ware!‘
„Ware für Jud, Jud für Ware“. Das war das Angebot Adolfs Eichmann im April 1944 an Joel Brand.
(Brand) Er sagte: ‘Was wollen Sie gerettet haben? Gebärfähige Frauen? Erzeugungsfähige Männer?‘ – Ich sagte, ich wollte alle gerettet haben
Während des Eichmann-Prozesses 1961 in Jerusalem sagt Joel Brand, ein früheres Mitglied der ungarischen zionistischen Hilfsorganisation Wa’ada, über seine Verhandlungen mit Adolf Eichmann aus. – Darf man mit solch einem Verbrecher verhandeln? Für Joel Brand stand das außer Frage. Er verhandelte über das Leben von hunderttausenden Menschen.
(Brand) Ich stotterte heraus, dass ich keine Waren habe. Die Waren, die es gab, haben die Nazis schon längst beschlagnahmt. Ich könnte ihm aber Geld, viel Geld anbieten. Er sagte dann, an Geld wäre er im Moment nicht interessiert. In Waren. Und auch nicht in ungarischen Waren wäre er interessiert, sondern in fremden Waren.
Die Verhandlungen mit dem Chef des „Judenreferats“ in Budapest standen unter enormen Zeitdruck. Am 19. März 1944 war die deutsche Wehrmacht in Ungarn einmarschiert. Schon gut einen Monat später, am 28. April, verließ der erste Zug mit ungarischen Juden Budapest in Richtung Auschwitz.
(Steinbacher) Mit der Wehrmacht kamen Einsatzkommandos mit, eines geleitet von Eichmann.
Die Historikerin Sybille Steinbacher leitet das Fritz-Bauer-Institut für Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Universität Frankfurt am Main.
(Steinbacher) Eine enorme Dynamik ist hier entwickelt worden, innerhalb von acht Wochen sind 438.000 Juden nach Auschwitz deportiert worden, die allermeisten von ihnen sofort umgebracht worden.
Bereits vor dem Einmarsch der Deutschen in Ungarn hatte sich dort die Hilfsorganisation gebildet, der Joel Brand und seine Frau Hansi angehörten.
(Brand) Dieses Rettungskomitee versuchte seit dem Jahre 41 Menschen aus den Konzentrationslagern, aus den Ghettos in Polen und in anderen Ländern herauszustehlen, herauszukaufen, herauszubringen. Es gelang uns im Laufe der Jahre etwa 20.000 Menschen so zu bringen. – 20.000 hört sich an wie eine sehr große Zahl, aber im Verhältnis zu dem, was gemordet worden ist, ein Tropfen auf einen heißen Stein. – Es ist unmöglich, 20.000 Menschen aus Nazi-besetzten Gebieten heraus zu stehlen, ohne dass der deutsche Spionageapparat und auch der ungarische Spionageapparat von diesen Dingen Kenntnis bekommen sollte. Und so kam es, dass wir einen Kontakt hatten mit dem deutschen Spionageapparat…
Aus heutiger Sicht scheint es zunächst verrückt, aktiv auf die Mörder zuzugehen, die für die Deportation von täglich zehntausend Menschen nach Auschwitz verantwortlich sind.
(Steinbacher) Im Frühjahr, im April 1944, hat man dann Kontakt aufgenommen zur SS, zu Dieter Wisliceny, einem Mitarbeiter von Eichmann. Was ja eine bemerkenswerte Sache ist. Was Mut erfordert, großen Mut erfordert und auch eine gewisse Chuzpe erfordert. Hintergrund war: Man hatte von Juden aus der Slowakei erfahren, dass es dort gelungen war, durch die Bestechung von Wisliceny zu erreichen von ihm, dass er die Deportation der slowakischen Juden stoppte.
In Budapest unternahm die Wa’ada bei Adolf Eichmann einen ähnlichen Bestechungsversuch: Gegen Koffer voll Geld und Schmuck im Wert von über 7 Millionen Schweizer Franken wollte man so viele ungarische Juden wie möglich freikaufen. Vor allem ging es um die Befreiung der noch in Budapest verbliebenen 200.000 Juden.
(Eichmann) Eines Tages kam Joel Brand zu mir. Ich hatte inzwischen die Zahl von 100.000 oder 200.000 einfach auf eine Million festgesetzt, weil ich die – einfach aus psychologischen Gründen, möchte ich mal sagen – meine Vorgesetzten hier ansprechen konnte.
Wie während des gesamten Prozesses gegen ihn zeigt Adolf Eichmann auf andere und versucht, sich selbst in ein positives Licht zu rücken.
(Eichmann) Und das Ergebnis war: Es wurde genehmigt. Dann hatte das seinen Grund darin, dass ich Brand alles nur Denkbare zu jener Zeit darin erleichterte.
(Steinbacher) Dann kam es zu einem aus heutiger Sicht absurden Deal, also zu Verhandlungen, die dann Eichmann geführt hat: Lastwagen gegen Juden.
Von Ende April bis Anfang Mai 1944 feilschen Brand und Eichmann in Eichmanns Hauptquartier, obwohl keiner von ihnen wirklich etwas in der Hand hat. Mitte Mai werden sie handelseinig über ein Geschäft, von dem sie wissen, dass es so nie zustande kommen wird.
(Brand) Zum Schluss spezifizierte er dann sein Angebot. Er sagte: 10.000 Lastkraftwagen für eine Million Juden oder 100 Juden für einen Lastkraftwagen. Als ich ihm antwortete: Wer wird mir glauben? Woher soll ich 10.000 Lastkraftwagen nehmen? Wer wird sie mir geben? Da sagte Eichmann das entscheidende Wort: Ich bin bereit, 100.000 Juden als Vorschuss zu geben, wenn Sie eine Zusage machen. Ich gebe Ihnen ein Flugzeug. Sie können hinfahren wohin Sie wollen. Bringen Sie mir die Zusicherung und ich liefere als Vorschuss 100.000 Juden.
Am 17. Mai 1944, heute vor 80 Jahren, verlässt Joel Brand gemeinsam mit Bandi Grosz, einem Doppelagenten, auf dessen Begleitung der NS-Sicherheitsdienst bestanden hatte, mit dem Auto Budapest. Zwei Tage später fliegen sie mit einem deutschen Kurierflugzeug von Sofia nach Istanbul, um dort, wie Brand Eichmann versichert hatte, mit Vertretern der vermeintlichen „jüdischen Weltmacht“ über die Lieferung der Lastkraftwagen in Kontakt zu treten. Während Brands Aufenthalt in Istanbul verhandeln andere Vertreter der Wa’ada weiter mit Eichmann über den von ihm versprochenen „Vorschuss“ von 100.000 Juden. Zu den Verhandlungsführern gehörte vor allem Rezsö Kasztner.
(Löb) Ich habe als ganz kleines Kind so einen phantastischen Begriff gehabt von diesem Rezsö Kasztner, halb Moses, halb Siegfried, der uns als strahlender Held aus diesem gefährlichen Ungarn hinausführt.
Ladislaus Löb war sozusagen ein Teil des von Eichmann versprochenen „Vorschusses“ auf die 10.000 Lastkraftwagen. Er und sein Vater sollten mit bei den Juden sein, die im Tausch dafür ins neutrale Ausland dürften. – Von den riesigen Zahlen, die Eichmann am Anfang der Verhandlungen in den Raum stellte, war jetzt nicht mehr die Rede. Am 22. Mai 1944 bewilligte er die Ausreise von 750 Juden aus Budapest. Zwei Wochen später erklärt er sich bereit, die Zahl zu erhöhen.
(Löb) Also beide Seiten haben geblufft, haben einander betrogen. Aber die nächste Frage ist: Warum hat Eichmann Kasztner eigentlich ernst genommen? Das war so ein kleiner Jude, wieso nimmt man den ernst? Einerseits hat man ihn ernst genommen, weil er schon mit einer gewissen Anzahlung gekommen ist. Aber noch wichtiger war: Die deutsche Propaganda, die behauptet hat, es gäbe diese jüdische Weltmacht und Weltverschwörung, und die Deutschen haben anscheinend selbst daran geglaubt und Kastner hat sich vorgestellt als der Stellvertreter der „jüdischen Weltmacht“. Und ich glaube, Eichmann ist da auf seine eigene Propaganda hereingefallen.
Am 30. Juni 1944 verlässt ein aus 35 Viehwaggons bestehender Zug, den man später den Kasztner-Zug nennen wird, mit 1.684 ungarischen Juden Budapest. Der Zug fährt allerdings nicht, wie ausgemacht, in die Schweiz, sondern nach Bergen-Belsen. Dort gibt es seit Anfang 1943 neben dem „normalen“ Konzentrationslager ein sogenanntes „Sonderlager“ für „Austauschjuden“. – In völlig überfüllten Baracken und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen müssen hier auch Ladislaus Löb und die übrigen Budapester Juden Monat um Monat ausharren. – Ihre Zukunft liegt im Dunkeln und wird vollends ungewiss, weil die Mission, mit der Joel Brand nach Istanbul und von dort weiter nach Syrien flog, inzwischen vollständig gescheitert ist.
(Brand) Das Treffen fand statt in Aleppo in Gegenwart englischer Offiziere und des damaligen Leiters der Jewish Agency, Moshe Sharett Chertok. Dort verhafteten mich die Engländer, brachten mich nach Kairo und ließen mich nicht zurückkommen.
(Steinbacher) Dieser Plan, dass die ungarischen Zionisten in Absprache mit der Jewish Agency Kontakt zu den Westalliierten herstellen sollten, der löste sich in Wohlgefallen auf.
Seitens der SS, vor allem Himmlers, steckte nämlich von Anfang an hinter dem vermeintlichen Geschäft „Juden gegen Lastwagen“ das Kalkül, über die Wa’ada-Emissäre und die Jewish Agency in Kontakt zu den Westalliierten zu kommen und so die Fühler für einen Separatfrieden mit ihnen auszustrecken. Die Freilassung einer größeren Anzahl von Juden war nie geplant.
(Steinbacher) Und die Briten haben dann auch diesen Plan im Sommer 1944 öffentlich gemacht, und sie haben sehr klar deutlich gemacht, dass sie nicht gewillt seien, also eine Missstimmung aufkommen zu lassen und die Einheit der Alliierten aufbrechen zu lassen und einen Keil hineintreiben zu lassen.
Trotzdem lässt Himmler den SS-Offizier Kurt Becher den ganzen Sommer über weiter mit Rezsö Kasztner von der Wa’daa weiterverhandeln. Immerhin mit dem Erfolg, dass sich der Zug mit den in Bergen-Belsen festgehaltenen, rund 1.700 ungarischen „Austauschjuden“ endlich in Bewegung Richtung Schweiz setzt.
(Löb) Am 7. Dezember 1944 um ein Uhr waren wir in der Schweiz, nach drei Tagen Fahrt durch Deutschland. Visuell gesprochen: Hinter uns, am Bodensee noch Lindau, total verdunkelt und schwarz, vor uns, über dem Bodensee, die Schweiz, hell erleuchtet.
(Steinbacher) Und was auch gelungen ist im Laufe des Sommers 44, war, dass ungefähr 15.000 Juden aus Ungarn nicht nach Auschwitz transportiert worden sind, sondern nach Strasshof bei Wien, um dort dann als Zwangsarbeitskräfte eingesetzt zu werden. – Es war der Versuch, eine Gegenstrategie zu entwickeln und das ließ sich eben umsetzen. Ich denke, das ist in hohem Maße anzuerkennen, dass das eben gelungen ist, sich überhaupt einzulassen auf Verhandlungen mit diesen Leuten und auf diese Weise eben doch einen kleinen Teil der ungarischen Juden doch in Sicherheit zu bringen.
In Israel dankte man den Rettern der Wa’ada anfangs allerdings nicht. Vor allem Kasztner nicht.
(Löb) Als diese – übrigens nicht nur Kastner, sondern die ganze Gruppe, die 700 Menschen aus unserer Gruppe, als sie nach Israel kamen, hat man sie gehasst. Eben weil sie zu diesen „schwachen“ Juden aus dem Schtetl gehörten, die nicht kämpften, die sich duckten, die Kompromisse eingingen, die sich einschmeicheln wollten, die Geschäfte machen wollten. Und als Symbol dafür ist Kasztner geworden.
1954 kam es sogar zu einem Prozess, in dem der Richter Kasztner der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigte.
(Löb) Und er hat noch einen Satz hinzugefügt, der wirklich ganz erstaunlich ist bei einem Richter, nämlich Kasztner hätte, indem er mit Eichmann diese Abmachung getroffen hat, seine Seele dem Satan verkauft. Und da war Kasztner vernichtet, es hat draußen Hexenjagd, auch auf seine Familie gegeben, also ganz unmenschlich behandelt.
(Steinbacher) Man kann das alles verstehen aus dem Kontext des jungen Staates Israel, dieser Zeit, als diese NS-Verfolgung sehr präsent war, der Schmerz sehr, sehr nah gewesen ist. – Aus heutiger Sicht und aus historischer Sicht ist das so sicher nicht zu rechtfertigen. Sondern doch eine hohe Anerkennung, die man dieser zionistischen Gruppe um Kasztner zollen muss für das, was sie erreicht haben. Man hat Chancen wahrgenommen, die sich geboten haben und hat aus dem heraus gehandelt, was man sehen konnte.
Am 3. März 1957 schossen drei Attentäter Rezsö Kasztner vor seiner Wohnung in Tel Aviv nieder. Am 15. März erlag er seinen Verletzungen. Nach seinem Tod, 1958, sprach ihn ein Gericht von der Anschuldigung der Kollaboration frei.
Literatur:
Yehuda Bauer, Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945. Aus dem Englischen von Klaus Binder und Jeremy Gaines. (1996)
Andreas Biss, List als Waffe. Wir hielten die Vernichtung an. (Erstausgabe 1966) März-Verlag 2022
Christian Gerlach/Götz Aly, Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944-1945. (2002)
Heinar Kipphardt, Joel Brand und andere Theaterstücke. (1988)
Ladislaus Löb, Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden. (2010)
Alex Weissberg, Die Geschichte von Joel Brand (1956)
WDR5 & WDR3, Zeitzeichen 17. Mai 2024