Freizeitpark

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Nach sechsmaligem Streik, nach monatelangen Blockaden des bundesweiten Zugverkehrs, gibt es endlich gute Nachrichten für Bahnreisende: Die Lokführergewerkschaft GDL und der DB-Konzern haben sich im Tarifkonflikt geeinigt. Der Hauptstreitpunkt, die Arbeitszeitreduzierung für Schichtarbeiter von 38 auf 35 Wochenstunden bei gleichbleibendem Gehalt, ist beigelegt: In mehreren Stufen soll die Arbeitszeit tatsächlich auf die von der GDL geforderten 35 Wochenstunden reduziert werden. Das „Modell“, mit dem diese Reduzierung erfolgt und zukünftig auch die Arbeitszeit geregelt werden soll, nennt die Bahn ein „innovatives Optionsmodell“. 

Den Wermutstropfen ins allgemeine Aufatmen des bahnfahrenden Publikums über die Einigung im Tarifkonflikt der Bahn träufelte eine Bemerkung des DB-Personalvorstands Martin Seiler. Die mit der Einigung einhergehende Lohnerhöhung, meinte er, sei „natürlich finanziell herausfordernd“. – Das muss man als eine Drohung verstehenNach der Logik eines privatwirtschaftlich geführten Konzerns schlagen sich höhere Löhne in höheren Bahnpreisen nieder. Köln-Berlin statt der bisherigen 80 bald 200 Euro?

Soweit die pessimistische Sicht auf die Folgen der Einigung zwischen Bahn und der GDL. Der Kompromiss, mit dem die Gewerkschaft ihre Vorstellung von einer 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter durchsetzen konnte, birgt allerdings auch Stoff für Optimisten. Er besteht in einem, wie die Bahn sagt, „innovativen Optionsmodell“. Mit dem sollen die Mitarbeitenden künftig selbst über ihre wöchentliche Arbeitszeit entscheiden können: Wer will, kann sich demnächst – bei entsprechender Bezahlung – wahlweise für 40, 36 und auch 35 Stunden entscheiden. – Warum bald nicht auch für noch weniger?

Die 32-Stunden, – also die vier-Tage-Woche, ist längst kein Zukunftsmodell mehr, sondern in einer erfolgreichen Probephase. Warum sind DB und GDL darauf nicht schon längst gekommen? 56 von 61 britischen Unternehmen, die sie ein halbes Jahr testeten, wollen erst einmal dabei bleiben. Auch in Deutschland ist die Vier-Tage-Woche in immer mehr Betrieben schon die Regel, vor allem solchen, die wie die Bundesbahn in Schichten arbeiten. Und dem Arbeitszeitreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zufolge favorisieren mehr als drei Viertel aller Berufstätigen in Deutschland die 4-Tage-Woche und nehmen die damit verbundenen Lohneinbußen gerne in Kauf.

Deutschland ist also schon längst auf dem Weg in einen „Freizeitpark“, wie der CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn vor kurzem ziemlich gehässig das Phänomen beschrieb, dass die arbeitende Bevölkerung hierzulande ihre Freizeit durchaus zu schätzen weiß. Statt mehr zu arbeiten, wie es Spahn mit panischem Blick auf den schrumpfenden Wohlstand forderte, sucht man sich lieber freundlichere Arbeitsplatzbedingungen und kürzere Arbeitszeiten aus. Wohlstand ist eben nicht nur Geld, dass man nicht ausgeben kann. „Work-Life-Balance“ ist inzwischen von einer Spinnerei zum Wettbewerbsvorteil kluger Unternehmensführung geworden.

Wer hätte sich während der enervierenden Streiks der Gewerkschaft der Lokführer ausmalen können, dass die uns einmal näher an die 100 Jahre alte Utopie des britischen Ökonomen John Maynard Keynes führen könnten: Dass die Menschen dank des technischen Fortschritts nur 15 Stunden in der Woche arbeiten müssten? Denken wir noch einmal 100 Jahre weiter, werden Claus Weselskys Urenkel uns vollends den Weg ins Marxsche Paradies öffnen, wonach wir heute dies, morgen jenes tun, morgens jagen, nachmittags fischen, nach dem Essen kritisieren, wie wir gerade Lust haben, ohne je Jäger, Fischer oder Kritiker zu werden. Und erst recht keine Lokführer.

WDR3 Mosaik, 27. März 2024