Victoria de Grazia, Der perfekte Faschist

Veröffentlicht in: Allgemein, Rezensionen | 0

Victoria de Grazia, Der perfekte Faschist. . Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt. Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Bischoff. Wagenbach. 508 Seiten. 38 Euro

https://www.wagenbach.de/buecher/demnaechst-erscheinen/titel/1408-der-perfekte-faschist.html

https://www.wagenbach.de/termine/veranstaltung/1552-der-perfekte-faschist.html

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-gutenbergs-welt/ach-italien-100.html

Emilio Gentile, der Nestor der italienischen Faschismusforschung, bezeichnete in seinem 2002 erschienenen Standardwerk die faschistische Vision des „neuen Menschen“ als ein „unterschätztes totalitäres Experiment“. Für die künftige Forschung sei es deshalb erforderlich, der Frage nachzugehen, welche Rolle der Mythos des „neuen Italieners“ im Faschismus spielte:

Weshalb maß der Faschismus diesem Mythos und der Realisierung einer anthropologischen Revolution eine so große Bedeutung zu, dass er sich für dieses Projekt wie besessen engagierte und selbst dann nicht davon abließ, als längt klar geworden war, dass die Mehrheit der Italiener davor zurückschreckte, sich nach dem faschistischen Modell umformen zu lassen?

Die amerikanische Historikerin Victoria de Grazia versteht ihr Buch als einen Beitrag zu dieser Fragestellung. Sie will, schreibt sie im Vorwort, die Gründe untersuchen, weshalb Mussolini seine Bewegung als eine „geistige“ und „ethische“ Revolution verstand, als eine „Politik des Herzens“. In Opposition zur These Hannah Arendts, wonach es in totalitären Gesellschaften keinen Raum für das private Leben gebe, glaubt die Autorin, dass es hinter der Fassade des italienischen faschistischen Totalitarismus durchaus ein reiches Privatleben gab:

Ich zeige, dass es auch unter faschistischer Herrschaft weiterhin moralische Bedürfnisse gab. Wir stoßen auf all die üblichen Gefühle und Werte – Hingabe an die Familie, Mütterlichkeit, Glaube, Treue gegenüber der Sache, Pflichtgefühl gegenüber der Nation und sogar Liebe. Das faschistische Italien war schrecklich und doch voller Herz.

Ihre daraus folgende These, dass sich im italienischen Faschismus Grausamkeit und Liebe durchaus miteinander vereinbaren ließen, sieht die Autorin durch die Person und das Leben des 1882 geborenen faschistischen Offiziers und Politikers Attilio Teruzzi bestätigt. Akribisch folgt sie dessen Biografie von seiner Teilnahme am italienisch-türkischen Krieg 1911/12 bis zu seiner Inhaftierung durch die Alliierten 1945. Nach dem Ersten Weltkrieg trieb er sich arbeitslos, aber immer noch stolz in seiner Majors-Uniform und mit einem gewaltigen, seine Männlichkeit ausstellenden Bart in Mailand herum. Dort lief er Mussolini über den Weg, der für den Aufbau seiner faschistischen Miliz Bedarf an Männern mit militärischem Organisationstalent hatte. Vor allem aber entsprach Teruzzis kriegerisch-viriler Habitus dem Bild, das der „Duce“ vom „perfekten Faschisten“ hatte:

Der faschistische Milizionär hat seinen eigenen moralischen Kompass, der von Einflüssen der herkömmlichen familiären, politischen und sozialen Moralität frei ist. Für ihn ist die Ehre wie einst für den Ritter ein hochzuhaltende, aber nie ganz zu erreichendes Gesetz.

Zitiert Victoria de Grazia das 1922 veröffentlichte „Reglement“ von Mussolinis Miliz, eine Art Programm für den „neuen Italiener“. – Im ersten Viertel ihres Buches beschreibt sie, wie Attilio Terruzi in der faschistischen Miliz durch die brutale Bekämpfung der sozialistischen Opposition rasch Karriere machte, so, dass Mussolini ihn bald schon zum Gouverneur von Libyen ernannte. Dabei beleuchtet sie auch das gesellschaftliche und moralische Klima, in dem der faschistische Staat aus einem Geflecht persönlicher Beziehungen entstand. Etwa auch unter dem Einfluss, der von Salons wie dem Margherita Sarfattis ausging, der Geliebten Mussolinis. Was de Grazia beim Werdegang Teruzzis jedoch am meisten interessiert, ist das intensive Liebesleben dieses „perfekten Faschisten“, insbesondere seine 1924 geschlossene Ehe mit der jüdisch-amerikanischen Opernsängerin Liliana Weinman. Deren gefühlvollen Schilderung widmet sie den Hauptteil ihres Buches, das sich manchmal wie eine Klatschkolumne liest.

Um zehn Uhr abends, ihre Familien hatten die Jungvermählten zum Bahnhof begleitet und in die Flitterwochen verabschiedet, waren Liliana und Teruzzi endlich allein. Sie nahmen in dem Präsidentenwaggon Platz, den Mussolini ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Liliana ging in die Schlafsuite und zog ihr schönes Nachtgewand an. Dann kam Teruzzi zu ihr. Als sie die Ehe vollzogen hatten, standen sie am Fenster und er nahm sie in seinen Arm.

Liest man über solche Stellen hinweg, entfaltet Victoria de Grazias Buch ein recht anschauliches Bild vom Funktionieren des faschistischen Machtapparates. Da in ihm der Schein – in dem Fall protziges, viriles Gehabe – oft mehr zählte als tatsächliche Fähigkeiten, ermöglichte er auch eher mittelmäßigen Charakteren wie Attilio Teruzzi einen glanzvollen Aufstieg. Die Schwäche von de Grazias Buch besteht darin, allzu großen Wert auf dessen Liebesleben zu legen. Das hat fast zwangsläufig zur Folge, dass sie seine Verbrechen eher beiläufig behandelt. Teruzzi war 1924 für die Ermordung des oppositionellen Politikers Giacomo Matteotti verantwortlich. Unter seiner Regentschaft in Libyen kam es bereits 1927 zu Giftgaseinsätzen im Krieg gegen die Araber. De Grazia erwähnt das zwar, Genaueres dazu erfährt man nicht, denn so richtig scheint sie das eigentlich auch nicht zu interessieren. – Immerhin aber könnte ihr Buch eine Antwort auf die von der Faschismusmusforschung aufgeworfene Frage liefern, warum die Italiener sich nicht nach dem Modell des „neuen Menschen“ umformen lassen wollten. Denn wenn dafür tatsächlich der liebestolle Attilio Teruzzi mit seinen Phantasieuniformen und seinem Rauschebart Pate stand, dann war das eher eine lächerliche Karikatur aus dem 19. Jahrhundert als ein „neuer Italiener“.

WDR3 Gutenbergs Welt 9. März 2023