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Das heute in Grundzügen noch gültige Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1872 folgte in Vielem christlichen Moralvorstellungen. Doch man kann es kaum glauben: In einem entscheidenden Punkt eben nicht, nämlich in Bezug auf den Selbstmord. Im Christentum war er als Sünde und Frevel gegen Gottes Willen zutiefst verfemt. Wer Selbstmord beging, konnte nicht auf göttliche Gnade, nämlich das Himmelreich, hoffen. Und selbst auf Erden wurde sie ihm nicht zuteil: Selbstmörder durften nicht innerhalb des Friedhofs, sondern nur hinter der Friedhofsmauer beerdigt werden. Im deutschen Strafgesetzbuch dagegen war der Selbstmord nicht strafbar. Und wenn die Haupttat nicht strafbar ist, ist auch die Beihilfe dazu nicht strafbar. Kurz: Ab dem Jahr 1872 war in Deutschland Beihilfe zum Suizid straffrei. Bis im Jahr 2008 der vormalige Hamburger CDU-Justizsenator Volker Kusch eine Selbstmordmaschine erfand – und an Sterbewillige verkaufte. Das rief die Moral der Staatsanwaltschaft auf den Plan, eine bundesweite Debatte über „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ entbrannte und führte schließlich dazu, dass der Bundestag sie im Jahr 2015 per Gesetz verbot. Dieses Verbot erklärte das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 für verfassungswidrig. Seitdem ist Beihilfe zum Selbstmord wieder straffrei. Doch gibt es eine Menge von Menschen, auch Juristen in Deutschland, denen das ein Dorn im Auge ist.
Am 7. November des vergangenen Jahres reiste Harald Mayer erwartungsvoll nach Leipzig: Dort sollte das Bundesverwaltungsgericht endgültig über seine Klage entscheiden, ob ihm das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte das Medikament Natrium-Pentobarbital herausgeben muss. Das ist in Medikament, mit dem er auf sichere Weise selbst, nämlich durch orale Einnahme, sein Leben beenden könnte. Denn er hat Multiple Sklerose im fortgeschrittenen Zustand, ist vollständig auf fremde Hilfe angewiesen und empfindet sein Leben nur noch als Qual. Seine Erwartung wurde enttäuscht.
(Harald Mayer) Ich meine, was mit mir ist, das sieht ja jeder. Das ist ja offensichtlich. Da hätte ich mir mehr auf Verständnis gehofft.
Das Gericht gab die Herausgabe des Medikaments nicht frei und argumentierte, es gebe für ihn andere zumutbare Möglichkeiten. So dürften nach fünfjährigem Verbot Sterbehilfevereine wieder arbeiten und Ärztinnen und Ärzten könnten ihm auch mit anderen Medikamenten beim Suizid helfen. – An solche Beihilfe zum Suizid zu kommen, ist jedoch in Deutschland nicht so einfach und seit Jahren ein sehr umstrittenes und rechtlich nicht vollständig geklärtes Thema. Im vergangenen Jahr wurden im Bundestag zwei Gesetzesentwürfe diskutiert, die die Sterbehilfe regeln sollten: Der eine stellte sie prinzipiell unter Strafe, sah nur Ausnahmen vor, der andere stellte sie straffrei.
Beide Vorschläge fanden keine Mehrheit. Die Juristin und Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung Ingrid Matthäus-Maier ärgert sich über beide:
(Ingrid Matthäus-Maier) Wir brauchen kein Gesetz, das die Sterbehilfe straffrei stellt. Denn sie ist straffrei nach dem berühmten Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020. Dort steht drin, dass die vom Bundestag eingeführte Strafbarkeit verfassungswidrig und nichtig ist. Damit ist der Rechtszustand wieder hergestellt, der bis dahin galt. – Das Strafrecht ist die schärfste Waffe, die der Staat hat gegenüber andern. Und das muss man sehr sorgfältig klären. Wenn also der Suizid nicht strafbar ist, – das ist die Haupttat, kann es keine strafbare Beihilfe geben! Dann müsste der Suizid strafbar sein. Der ist aber nicht strafbar.
Ingrid Matthäus-Maier hat den unter anderen von der Giordano-Bruno-Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben herausgegebenen „Berliner Appell 2022“ mit verfasst. – Viele derjenigen, die der Sterbehilfe skeptisch gegenüberstehen, etwa der Deutsche Ethikrat, sehen in den Sterbewilligen vornehmlich in psychische Not geratene Opfer, die nicht zu einer freien Willensentscheidung in der Lage seien.
(Ingrid Matthäus-Maier) Wer sich zu einem Suizid entscheidet, hat sich das in aller Regel sehr genau überlegt, hat oft auch mit Verwandten und Bekannten darüber gesprochen, dass er das freiverantwortlich tut. Mein Eindruck ist, dass insbesondere die vielen Verbände, die z.B. positive Palliativ-Pflege anbieten, das Hauptziel haben: Sie wollen den Suizid verhindern! Das ist aus deren Sicht legitim. Aber aus der Sicht des Betroffenen, der möglicherweise seit Jahren versucht hat, einen Ausweg aus seinen Nöten zu finden, ist es nicht in Ordnung.
Von einem Gnadenakt, der mit der Hilfe zum Suizid vollzogen wird, ist so gut wie nie die Rede. Dafür aber scheint bei vielen im Vorbehalt gegen die Sterbehilfe die christlich fundierte moralische Verurteilung des Selbstmordes an sich als Sünde und Frevel gegen Gott fortzuwirken. Gerichte sprechen das zwar nicht mehr so deutlich aus wie der Bundesgerichtshof, der 1954 in einem Fall von Beihilfe zum Selbstmord urteilte, niemand dürfe „selbstherrlich“ über sein eigenes Leben verfügen. Doch sind die Gerichte nicht die einzigen, die in der Debatte über die über die Legitimität der Sterbehilfe eine Rolle spielen.
(Ingrid Matthäus-Maier) Wenn Sie zum Beispiel die Stellungnahmen der Kirchen lesen oder auch anderer Verbände, die ideologisch sehr einseitig sind, dann sehen Sie: Die akzeptieren einfach nicht, dass es Menschen gibt, die sterben wollen. Weil sie sagen, Gott hat uns das Leben gegeben, dann kann auch nur Gott das wieder nehmen. Wer so denkt, soll das tun. Aber er darf diese Denke nicht für den Rest der Republik in einem Strafgesetz umsetzen.
Im säkularen Strafgesetzbuch spielt der Begriff der Gnade nur als Ausnahme vom geregelten Gang des Verfahrens eine Rolle. Trotzdem war das deutsche Strafgesetz bis zum Jahr 2015 insofern gnädig, als es weder den Selbstmord noch die Beihilfe dazu unter Strafe stellte. Noch dauert die Debatte darüber an, ob dieser Zustand wieder hergestellt werden soll.
WDR3 Mosaik 19. Januar 2024