Jakub Małeckis Wartheland

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Der 1982 geborene polnische Autor Jakub Małecki ist in seiner Heimat inzwischen ein Bestsellerautor, in Deutschland sind im Secession-Verlag bisher aber nur drei Romane von ihm erschienen. Die haben es allerdings in sich, sowohl von ihrer überragenden literarischen Qualität wie auch von ihrem Inhalt. Denn es sind zum einen zwar in der Jetztzeit spielende, historisch aber bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreichende Romane, haben also auch die Zeit der deutschen Okkupation zum Thema. Zudem ist ihr Schauplatz die Gegend um den Fluss Warthe, das Land also, das die Deutschen damals „Warthegau“ nannten und dem Deutschen Reich vollständig einverleiben wollten: Viele Polen wurden vertrieben, statt ihrer Deutsche angesiedelt. In seinem letzten, im vergangenen Herbst auf Deutsch erschienenen Roman „Beben in uns“ erzählt er die Geschichte zweier Familien aus dem Dorf Chojny nahe der mittelpolnischen Stadt Koło: Bis in die heutige Generation wirkt das Trauma der Besatzung nach, so, dass die Protagonisten wie paralysiert scheinen, unfähig, sich eine Zukunft außerhalb der engen Grenzen des Dorfes aufzubauen. Ich habe Jakub Małecki in seiner Heimatstadt Koło an der Warthe besucht und mit ihm darüber gesprochen, aus welchen historischen und familiären Quellen seine Romane schöpfen und ob sie vielleicht auch etwas über die Mentalität der Menschen im heutigen ländlichen Polen aussagen.

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Die Burg gegenüber der mittelpolnischen Stadt Koło ist älter als die im 14. Jahrhundert gegründete Stadt selbst. Im 12. und 13. Jahrhundert schützte sie unter König Kasimir dem Großen die polnischen Staatsgrenzen gegen den Deutschen Orden. Übrig geblieben ist eine Ruine mit einem mächtigen, von Krähen umkreisten Rundturm.

(Jakub Małecki) Ich kenne die Ruine seit meiner Kindheit, denn hier habe ich mit meinen Brüdern und Freunden oft abgehangen. Sie hat aber auch mit der Geschichte und dem Namen der Stadt Koło zu tun. Die Altstadt war von Wasser umgeben wie ein Kreis. Und Koło bedeutet Kreis. Und wir stehen hier neben der Burg jetzt auf einer Insel, umgeben von Wasser.

Das Wasser ist das Wasser des Flusses Warthe, eines 800 Kilometer langen Zuflusses der Oder. Der ruhig fließende und breit durch riesige Schilffelder mäandernde Fluss gibt der ganzen flachen Landschaft rund um Koło ihren deutschen Namen. Das Wartheland. Es dehnt sich von Lodz im Südosten bis weit über Posen im Nordwesten aus, bildet die Woiwodschaft Großpolen und ist seit Jahrhunderten polnisches Kerngebiet. In dieser Landschaft spielen sämtliche Romane Jakub Małeckis.

(Jakub Małecki) Je älter ich werde, desto größeren Raum nehmen diese Stadt und dieser Fluss und alles, was mit meiner Kindheit zu tun hat, in meinen Büchern ein. Mit jedem Buch dringe ich tiefer in meine Erinnerungen ein, schreibe Geschichten, die aus meinem Herzen kommen.

Alle Charaktere in Małeckis Romanen sind in den Dörfern rings um Koło verwurzelt, ihre Familien leben seit Generationen hier. Małecki verfolgt ihre Geschichte bis zurück in die Zeit vor dem 2. Weltkrieg.

(Jakub MałeckiDer Roman „Beben in uns“ zum Beispiel umfasst 90 Jahre Familiengeschichte. Ein so riesiger Zeitraum bedeutet natürlich, dass ich über den Krieg erzählen muss, denn der Krieg war für alle Familien, meine eigene eingeschlossen, die wichtigste Erfahrung. In meinem Roman „Saturnin“ zum Beispiel kehrt der Bruder meiner Großmutter nie aus dem Krieg zurück. Der Krieg war in jeder polnischen Familie präsent und hat dort Spuren hinterlassen.

Katharina Boguslawaska stammt aus dem ebenfalls im Wartheland liegenden Dorf Czerniewiece. Sie berichtet, was sie von ihrer Großmutter Sofia Rybak über die Kriegszeit weiß. Sofia war zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf Polen 11 Jahre alt.

(Katharina Boguslawaska) Es wurden regelrechte Treib- oder Kesseljagden in den Dörfern abgehalten. Eine Brigade deutscher Soldaten kam, sie stiegen von den Lastwagen ab und trieben alle Dorfbewohner, bevorzugt die Männer, in der Dorfmitte zusammen und transportierten sie dann ab. Auch ihr eigener der Vater wurde bei einem solchen Kesseltreiben gefangen genommen. Aber aus irgendeinem Grund kam ein deutscher Offizier und holte ihn aus dem Pulk der Gefangenen heraus. Sie hat damals vermutet, es könnte damit zu tun haben, dass sie fünf Kinder zu Hause hatten.

Das Wartheland spielte in den Plänen der deutschen Eroberer und Besatzer eine besondere Rolle, weil es im 19. Jahrhundert eine preußische Provinz und sein westlicher Teil teilweise von Deutschen besiedelt war: Im Zuge ihrer Germanisierungspolitik im Osten beanspruchten sie es nun ganz für sich, nannten es „Warthegau“, verdeutschten sämtliche Ortsnamen, nannten Lodz „Litzmannstadt“ und Koło „Warthbrücken“. Sie vertrieben viele polnische Gutsbesitzer und siedelten Deutsche auf deren Höfen an.

(Katharina Boguslawaska) Im Dorf Czerniewice gab es eine Art Bezirksvorsitzenden, ähnlich wie ein Bürgermeister. Der war ziemlich reich und besaß auch einen Hof. Als die deutschen Besatzer kamen, wurde er von seinem Hof vertrieben, niemand weiß, ob man ihn in Konzentrationslager oder zum Arbeiten nach Deutschland schickte. Auf seinen Hof kam ein deutsches Ehepaar, der Mann übernahm auch seine Funktion als Bürgermeister.

(Zitat Jakub Małecki, Rost) Am 10. Juni, an einem Montag kurz nach zwölf, kamen zwei Herren in Uniform, einer sah sehr gut aus. Mama stellte auf den Tisch, was sie hatte, und sie hatte Brot, Butter, Schmalz, Nudeln und Blutwurst. Nachdem die Herren gegessen hatten, stand der Gutaussehende auf, lächelte freundlich, schlug Mama mit der Faust auf den Mund und sagte in raschelndem Polnisch, alle sollten machen, dass sie wegkommen.

Obwohl es in den Romanen Jakub Małeckis einige solcher Szenen gibt, ergehen sich die Kriegsschilderungen darin kaum in Horrorszenarien. Małecki bleibt auf Distanz, nimmt immer die Perspektive seiner Figuren ein, die eher ungläubig den Schrecken um sich herum wahrnehmen. In seinem Roman „Rost“ beispielsweise bekommen die Bewohner des Dorfes Chojny die Ermordung zehntausender Juden im nahe gelegenen Konzentrations- und Vernichtungslager Kulmhof nur indirekt, über den in der Luft hängenden Geruch verbrannten Fleisches, mit.

(Jakub Małecki) Eine alte Dame aus dem Dorf Choijny hat mir erzählt, dass Bauern bei der Feldarbeit den Geruch verbrannter Menschen wahrnahmen. Am ersten Tag, erzählte sie, war es furchtbar, auch noch am zweiten und dritten Tag. Aber nach ein paar Wochen gewöhnte man sich daran. Selbst an die grausamsten Erfahrungen gewöhnte man sich.

Das Dorf Chojny, wenige Kilometer von Koło entfernt, ist der Schauplatz einiger Romane Jakub Małeckis, ganz explizit der seines letzten, „Beben in uns“. Hier hat er viel recherchiert, hat die Biografien, manchmal sogar die Tagebücher von Bewohnern, aber auch seine eigene Familiengeschichte als Quellen benutzt, denn einer seiner Brüder lebt heute in Chojny.

(Jakub Małecki) Vieles, was ich in “Rost“ oder in „Beben in uns“ beschreibe, stammt aus dem Erfahrungsschatz meine Familie. Auch die Geschichte, in der die Dorfbewohner auf vorbeifahrende Züge springen, in der Hoffnung, dort Kohle zu finden – aber immer nur irgendwelche Anzüge finden. Alles, auch die verrücktesten Geschichten in diesen Romanen, ist wirklich einmal passiert.

Geht man heute durch Chojny, ein kleines Straßendorf mit nur wenigen hundert Einwohnern, findet sich nichts mehr, was an die Geschichten erinnern würde, die Jakub Małecki in seinen Romanen erzählt. Die meisten der sich wie Perlen an einer Schnur hintereinander reihenden und von Wiesen und Sträuchern umgebenen Häuser sind neu, viele werden noch verputzt. Abgesehen davon, dass Chojny ringsum von sich bis Horizont dehnenden Feldern umgeben ist, kann man sich kaum vorstellen, dass hier einmal Bauernhäuser gestanden haben und Bauern gelebt haben. – Und doch, glaubt man Jakub Małecki, befindet man sich hier immer noch in einer hermetischen, sich nach außen verschließenden bäuerlichen Welt.

(Jakub Małecki) Meine Welt hier war klein und hermetisch. Die Leute hier reisen nicht, meine Großmutter hat noch nie die Ostsee gesehen, obwohl die wirklich nicht weit ist. Und so wie sie leben noch viele alten Leute in Chojny, die hier geboren sind und auch hier sterben werden.

Die große Kunst des Romanautors Jakub Małecki besteht in seinem Umgang mit der Zeit: Sein An- und Vorausdeuten verleiht allem von ihm erzählten Geschehen den Anschein schicksalhafter Zwangsläufigkeit. Seine Protagonisten sind Gefangene magischen Denkens, ausgeliefert dem Glauben an die unerbittliche Vorbestimmtheit ihres Schicksals. So erzählt er in seinen Romanen nicht nur bezwingend schöne moderne Märchen, sondern vielleicht auch etwas über das Leben der Menschen im heutigen ländlichen Polen.

(Jakub Małecki) Sie müssen in ihrem Leben wie in meinen Romanen großen Mut aufbringen, etwas zu ändern. Denn sie sind es gewohnt, die Dinge immer auf die gleiche Weise zu tun. So entscheiden sie sich immer wieder so, wie das ihre Vorfahren getan haben – und machen immer wieder die gleichen Fehler.

Deutschlandfunk, 7. Januar 2024; WDR3 Mosaik, 13. Januar 2024