Thomas Sparr, Ich will fortleben, auch nach meinem Tod. Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank. S.Fischer. 336 Seiten. 25 Euro
https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-gutenbergs-welt/leben-und-schreiben-100.html
Wer glaubt, über Anne Franks Tagebuch sei schon alles gesagt, wird von der sorgfältigen Recherche des Literaturwissenschaftlers Thomas Sparr eines Besseren belehrt. Ganz zu Unrecht umgibt das Buch, das seit Jahrzehnten in Deutschland zur Schulbuchlektüre gehört, der Nimbus des Allzubekannten. Zwar fördert Sparr nichts grundsätzlich Neues mehr zutage, doch erinnert er in einer Zeit neu aufkeimenden Antisemitismus an eine ganze Reihe in Vergessenheit geratener peinlicher Details, die die Editionsgeschichte des Buches überschatten. Zum einen begleitete Anne Franks Buch sehr früh schon der Vorwurf, es sei gefälscht.
Die gefälschten Tagebücher der Eva Braun, der Königin von England und das nicht echtere der Anne Frank haben den Nutznießern der deutschen Niederlage zwar einige Millionen eingebracht, uns dafür aber auch recht empfindlich werden lassen.
Schrieb im Oktober 1958 ein Lübecker Studienrat in einer Zeitschrift seiner Schule. Es kostete Otto Frank, den Vater Annes, langwierige und demütigende Anstrengungen, solche politisch motivierten Verleumdungen zu widerlegen: Die Lübecker Staatsanwaltschaft unterzog ihn und weitere Zeugen aus der Zeit, in der die Familie Frank sich in Amsterdam verstecken musste, einer zweitägigen Vernehmung. Erst nach einem graphologischen Gutachten der Hamburger Universität stellte sie fest, dass die Tagebücher tatsächlich von der Hand Anne Franks stammten. Obendrein aber forderte sie noch ein literaturwissenschaftliches Gutachten an – und das ausgerechnet beim Literaturkritiker Friedrich Sieburg, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied und Herold des Nationalsozialismus im besetzen Frankreich. Immerhin attestierte Sieburg Anne Franks Tagebuch die „Echtheit“ eines historischen Zeitzeugnisses. Über seinen literarischen Wert schwieg er sich aus. Den aber hatten zuvor schon einige renommierte deutschen Verlage in Zweifel gezogen. Als Otto Frank nach der erfolgreichen Veröffentlichung von „Het Achterhuis“ 1947 im niederländischen Contact-Verlag nach deutschen Verlegern suchte, bekam er im Juli 1949 Post aus Weimar:
Es ist mir sehr, sehr peinlich, aber das von Ihnen freundlichst übersandte Tagebuch des deutsch-jüdischen Mädchens erscheint mir für den Kiepenheuer Verlag, der von jeher das Bestreben hatte, nur Bücher von hohem literarischen Niveau zu bringen, ungeeignet.
Der Ost-Berliner Verlag „Volk und Welt“ schloss sich dem an, ergänzte aber noch, dass man nicht glaube, dass sich das Buch nicht „für ein größeres Lesepublikum hier eignen dürfte.“ – Erst nachdem es in französischer Übersetzung erschienen war, verhalf der engagierte kleine Heidelberger Verlag Lambert Schneider dem Tagebuch der Anne Frank auch in Deutschland zu Bekanntheit. Zu hohen Auflagen hierzulande kam es aber erst auf dem Umweg über den New Yorker Broadway. Dort hatte am 5. Oktober 1955 die nach der englischen Übersetzung erarbeitete Bühnenfassung Premiere – und wurde ein rasender Erfolg. Um den Preis allerdings, dass der Stoff Broadway-tauglich und das heißt zu Herzen gehend gemacht worden war: Der Umstand, dass die Franks Juden waren und dass Anne am Ende ermordet wurde, verschweigt das Stück. In dieser Verharmlosung und Verkitschung kam die Broadway-Bühnenfassung schließlich 1956 nach Deutschland und brachte es zu hunderten Aufführungen auf Dutzenden Bühnen – sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR. Hier wie dort war dem Stoff sein ursprünglicher politischer Kontext genommen.
Das „Tagebuch der Anne Frank wurde existentialistisch gedeutet, verallgemeinert, auf das eigene Schicksal bezogen. Eine „explanatorische und analytische Bewältigung des Nationalsozialismus“, wie sie der Philosoph Hermann Lübbe einmal als Ziel formuliert hatte, fand nicht statt.
Daran änderten auch die vielen Vor- und „Geleitworte“ zu Anne Franks Buch, denen Thomas Sparr ein eigenes Kapitel widmet, wenig bis nichts. Die Sozialpolitikerin Marie Baum, obwohl selbst ein Opfer des NS-Regimes, bekümmerte als Verfasserin des Vorworts zur ersten deutschen Ausgabe mehr, dass die „arme Anne“ um ihre wertvollen Entwicklungsjahre gebracht als dass sie ein Opfer des Rassenwahns wurde. Am übelsten trieb es der französische Geleitwortschreiber, der das Tagebuch als Glaubensmanifest las und christlich umdeutete. – Gewissenhafte und kritische wissenschaftliche Arbeiten wie die von Thomas Sparr stellen einen gewissen Schutz gegen die Fremdvereinnahmung und Umdeutung von Anne Franks Tagebuch dar. Eine Garantie freilich bieten auch sie nicht. Deshalb ist es ein gewisser Trost, dass in den Niederlanden sämtliche Rechte an der philologischen und historischen Erschließung des Tagebuchs bei einem wissenschaftlichen staatlichen Institut liegen. Ein, wie Sparr schreibt, wohl einmaliger Vorgang, dass ein Staat ein frei verkäufliches Werk in seine Obhut nimmt. Die Niederlande, das Land in Westeuropa, aus dem die meisten Juden deportiert wurden, wissen offensichtlich was sie tun. Sie sind das einzige Land, in dem es strafbar ist, die Echtheit von Anne Franks Tagebuch anzuzweifeln.
WDR3 Gutenbergs Welt 30. Dezember 2023