Jakub Małecki, Beben in uns

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Jakub Małecki, Beben in uns. Roman. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. Secession-Verlag. 359 Seiten. 25 Euro

https://www1.wdr.de/kultur/buecher/malecki-beben-in-uns-102.html

Auch der dritte ins Deutsche übersetzte Roman des polnischen Autors Jakub Małecki spielt in der Landschaft um den Fluss Warthe. Der Schrecken der Besatzung durch die Deutschen im 2. Weltkrieg wirkt lange nach und bestimmt bis in die dritte Generation das Schicksal zweier Bauernfamilien. 

Er lernte sie auf demselben Feld kennen, auf dem er sechsundzwanzig Jahre später unter dem aufgefressenen Mond sterben sollte.

Wenn ein Buch so beginnt, weiß man, dass man jetzt in eine Romanwelt eintaucht, die einen so bald nicht mehr loslassen wird. Denn ein klassischer Roman versteht es, wenn er gut ist, die von ihm erzählte Zeit so zu komprimieren, dass die Erzählzeit für den Leser zu einem überaus spannungsgeladenen Jetzt-Erlebnis wird. In wenigen Stunden ziehen Jahrzehnte an ihm vorüber und er reibt sich am Ende die Augen wie nach einem Tagtraum. – Die erzählte Zeit in Jakub Małeckis Roman „Beben in uns“ beginnt im Jahr 1938 und endet 2004. Der Ort allerdings bleibt in diesem halben Jahrhundert der gleiche, es sind ein paar Dörfer nahe der mittelpolnischen Stadt Koło am Ufer der Warthe. Hier kreuzen sich die Wege und Schicksale zweier Familien, der von Janek Labendowicz und der von Bronek Gelda. Es sind Bauernfamilien, die seit Generationen ein paar kümmerliche Äcker bewirtschaften und deren Alltag so einförmig ist, dass die großen Ereignisse, selbst der Krieg, bloß Randgeschehen bleiben. Der Krieg brachte für Janek zwar die deutsche Besatzung, doch die war erträglich, weil die neue deutsche Gutsherrin, Frau Eberl, sich liebevoll um ihn, seine schwangere Frau Irena und den kleinen Kasimir kümmerte. Bis dann der Krieg zu Ende ist und Janek das Pferdefuhrwerk lenken muss, auf dem Frau Eberl mit ihren Töchtern flieht. Doch kurz vor der deutschen Grenze packt Janek die Angst.

Als er weglief, hörte er noch, wie die Frau ihn verfluchte, wie sie ihm den Tod wünschte, ihm und Irena, und dass deine Frau einen Teufel zur Welt bringt und kein Kind, Satan, nicht dziecko schrie Frau Eberl, während Janek weglief. 

Dieser Fluch wird auf Janek lasten, ihn bis in seine Träume verfolgen, wird sein Leben und das seiner Familie bestimmen bis zum Tag seines Todes. Denn der Fluch Frau Eberls wird Wirklichkeit werden:

Kurz darauf kam ein kleines farbloses Ungeheuer zur Welt. Seine Geburt dauerte dreißig Stunden und es brachte Irena, die vom Schreien keine Stimme mehr hatte, fast um. Der Junge war von den Augenbrauen bis zu den Fußnägeln weiß. Unter der Haut zeichneten sich hier und da dünne rosa Streifen ab. Janek versuchte, ihn nicht anzuschauen. „Erwürg ihn, Janek“, sagte Irena, während sie ihre Wange an das vom Schweiß durchnässte Kissen drückte.

Janek aber tut nicht, was sie will und so wächst Wiktor neben seinem Bruder Kasimir heran, ungleich mehr vom Spott und Hass der Dorfbewohner verfolgt als jedes andere Kind. Denn vor einem Albino fürchtet man sich hier, für viele ist er sogar tatsächlich der leibhaftig gewordene Satan. Nicht aber für Emilia, die einzige Tochter Bronek Geldas aus dem Nachbardorf. Denn auch auf ihr lastet ein Fluch, der Bann, den eine junge Roma-Wahrsagerin gegen Bronek ausstieß, weil der sich von ihr nicht aus der Hand lesen lassen wollte. „Die Hölle wird dein Kind auffressen und wie einen Fetzen ausspucken“ rief sie ihm zu, als er sie verjagte. Und genauso kam es: Sie ist gerade sechs Jahre alt, da verbrennt bei der Explosion einer deutschen Granate Emilias ganzer Körper. Nur das Gesicht bleibt verschont, alle übrige Haut an ihr ist und bleibt rot und runzlig, – verunstaltet für ihr ganzes Leben.

Als sie zu dem Schluss gekommen war, sie würde nie jemanden kennenlernen, kam ein Abend, an den sie sich immer erinnern sollte. Alles begann in der Nacht, als die Menschen auf dem Mond landeten.

Es liegt in der beinahe märchenhaften Logik von Jakub Małeckis Roman, dass ausgerechnet aus den beiden Stigmatisierten, aus Wiktor und Emilia, ein Paar wird. – Und überhaupt macht so etwas wie ein magischer Realismus den Zauber dieser beiden ineinander verflochtenen Familiengeschichten aus. Das hat zum einen mit der überragenden Erzählkunst Małeckis zu tun: Trotz allen Elends und Unglücks, das er Janek und Bronek und ihren Familien bis in die dritte Generation widerfahren lässt, bleibt sein Ton schwebend und gelassen, manchmal fast zärtlich. Und sein Umgang mit der Zeit, das An- und Vorausdeuten, verleiht allem erzählten Geschehen den Anschein schicksalhafter Zwangsläufigkeit. Zum anderen aber ist das Magische selbst das eigentliche Thema des Romans: Seine Protagonisten sind Gefangene magischen Denkens, ausgeliefert dem Glauben an die unerbittliche Vorbestimmtheit ihres Schicksals. – Insofern ist „Beben in uns“ nicht nur ein bezwingend schönes modernes Märchen, sondern erzählt auch etwas über das heutige Leben im ländlichen Polen.

WDR3 Kultur am Mittag & Resonanzen 1. Dezember 2023