Liegestuhltauglich

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Pünktlich wie immer im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse wurde soeben die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 veröffentlicht und damit die Frage in den Raum gestellt, ob die Jury sich wieder traut, am Ende ein so radikales Buch wie im letzten Jahr zu nominieren. Die Wahl von Kim de l’Horizons „Blutbuch“ – queer, radikal, literarisch einigermaßen anspruchsvoll – war insofern eine Sensation, als es nicht dem großen Publikumsgeschmack verpflichtet ist. Für den aber steht ansonsten der Deutsche Buchpreis – mit wenigen Ausnahmen.

Die guten Nachrichten wie immer zuerst: Die Zahl der jugendlichen Buchkäufer von zehn bis 15 Jahren hat sich in den letzten vier Jahren verdoppelt! Und: Diejenigen, die Bücher kaufen, kaufen mehr Bücher. Im letzten Jahr waren das immerhin mehr als 13 Bücher pro Jahr im Schnitt. – Soweit die guten Nachrichten. Insgesamt nämlich lässt sich mit Büchern immer weniger Geld verdienen. Der Umsatz im deutschen Buchhandel ist eingebrochen, vier Millionen Buchkäufer hat er in den letzten Jahren verloren.

Ob der diesjährige Deutsche Buchpreis die Käuferscharen zurück in die Buchhandlungen treibt, steht in den Sternen. Immerhin aber kurbelt er mit seiner Longlist schon einmal den Aufmerksamkeitsturbo im Literaturbetrieb an. Das ist schließlich sein Zweck. Und dass auf der diesjährigen Liste die großen Verlage nicht zu kurz kommen, versteht sich auch von selbst. Ebenso von selbst versteht sich, dass die versuchen, mit schon eingeführten Autorinnen wie Terézia Mora, Clemens J. Setz oder Sylvie Schenk die begehrten Bestseller-Buttons auf den Umschlag zu bekommen.

Interessant ist deshalb, welche Autorinnen und Autoren von welchen Verlagen außerhalb des Mainstreams die Jury auf die Liste gesetzt hat. Unter den 20 Nominierungen finden sich immerhin fünf Verlage, von denen der Durchschnittsleser bisher nichts oder wenig gehört hat. Und kaum auch etwas von Autoren wie zum Beispiel Tim Staffel. Der versucht sich im Berliner Kanon-Verlag mit „Südstern“ an einem schrägen Drogendealer-Stoff. Luca Kieser bringt in seinem im Picus-Verlag erschienen Roman einen monströsen Tintenfisch zum Erzählen. Und Thomas Oláh gibt im österreichischen Müry-Salzmann-Verlag sein Debüt mit einem skurrilen Heimatroman um die Verbindung von Katholizismus und Suff.

Im Vergleich dazu versprechen die Titel, die die etablierten Verlage ins Rennen schicken, eher Durchschnittskost, also das, was das Publikum ohnehin favorisiert: Familiengeschichten. Als Favoriten werden die DDR- bzw. Nachwende-Romane von Angelika Klüssendorf und Anne Rabe gehandelt, aber auch „Vatermal“ von Necati Öziris. – Dass moderne, anspruchsvolle, gar avantgardistische Literatur es in diesem Jahr zum Deutschen Buchpreis bringt, lässt sich aus der jetzt vorliegenden Longlist nicht ablesen. Anne Webers „Annette, ein Heldinnengesang“, das vor zwei Jahren gewann, wird wohl die große Ausnahme bleiben.

Der Münsteraner Literaturwissenschaftler Moritz Baßler hat vor kurzem der gesamten deutschen Literatur, auch der, „gehobenen“, eine ästhetische Machart bescheinigt, die auf leichte, schnelle, „liegestuhltaugliche“ Lektüre abzielt. Warum sollte sich da ausgerechnet ein Buchpreis, dem es um die Anhebung von Verkaufszahlen geht, in die avantgardistische Bresche schmeißen? – Wir sollten alle froh sein, dass überhaupt noch Literatur gelesen wird.

WDR3 Mosaik 23. August 2023