Victor Hugo, Ozean. Dinge, die ich gesehen habe. Übersetzt und herausgegeben von Alexander Pschera. Matthes&Seitz Juni 2023. 974 Seiten. 48 Euro
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Wer begreifen möchte, warum Victor Hugo in Frankreich auch heute noch ein so verehrter Schriftsteller ist wie bei uns in Deutschland Goethe, sollte einen Blick in dieses Buch werfen. Zeit seines Lebens hat Hugo nicht nur eines sondern gleich mehrere Tage- und Notizbücher geführt. Von einem Journal mit ausgearbeiteten literarischen Skizzen (etwa dem ausführlichen Bericht über einen Gefängnisbesuch) bis hin zu Haushalsheften, in denen er seine Ein- und Ausgaben notierte. Ein viele tausend Seiten umfassendes Konvolut. Der vorliegende Band „Ozean“ (ein von Hugo selbst gewählter Titel für seine nachgelassenen Schriften) ist eine kluge Auswahl daraus. Denn in ihr zeigt sich Hugo einerseits als aufmerksamer und emphatischer Beobachter des politischen und gesellschaftlichen Lebens von der Revolution 1830 über die von 1848 bis zum Aufstand der Commune 1871. Andererseits als ein politischer Akteur, der aktiv an den beiden Revolutionen beteiligt war und sich vehement gegen die Todesstrafe und für die Amnestie von Gefangenen einsetze.
Wie kann man jeden Tag mit kühlem Blick aufschreiben, was man gesehen hat? Und das inmitten aller Gefühle, Leidenschaften, Probleme, Katastrophen, inmitten des Lebens? Außerdem bedeutet ergriffen sein, zu lernen. Wenn man jeden Tag schreibt, ist es unmöglich, etwas anderes zu tun als das zu notieren, was einen berührt.
Sein Vorhaben, einen „kühlen Blick“ zu bewahren, gelingt Victor Hugo selten. Glücklicherweise. Denn sein Blick auf die persönliche Geschichte seines Alltags, obwohl eng mit dem politischen Geschehen Frankreichs verwoben, ist nie ein kühler Blick „von oben“. Nirgendwo in seinem Journal, an dem er sein ganzes Leben schrieb, erhebt er sich zum Deuter der von ihm mitgestalteten Geschichte. Immer bleibt er ein detailversessen aufmerksamer, mitfühlender und vor allem ein durch und durch uneitler Zeitgenosse. Diese Bescheidenheit trägt dazu bei, dass man die stattlichen 800 Seiten seiner gesammelten Notizen, Anekdoten und Erinnerungen zügig und mit großem Vergnügen lesen kann. Nirgends belästigt Hugo die Leser mit Allzupersönlichem. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf seine unmittelbare gesellschaftliche und politische Umgebung und lässt sich nie von Überflüssigem ablenken. Und da der Autor von „Les Miserables“ auch als Tagebuchschreiber kraftvoll und facettenreich erzählen kann, wird dem Leser mit „Ozean“ eine spannende Französische Geschichte des gesamten 19. Jahrhunderts präsentiert.
Es ist eine schlechte Lobrede auf einen Mann, wenn man von ihm sagt: Seine politische Meinung hat sich in den letzten vierzig Jahren nicht verändert. Das bedeutet, dass er weder tägliche Erfahrungen gemacht noch nachgedacht hat. Es bedeutet, ein Gewässer zu loben, weil es stillsteht, einen Baum, weil er tot ist.
Hugo, 1802 geboren, gelangt früh als Anführer der romantischen Bewegung zu literarischer Bekanntheit und dann durch einen Adelstitel zu Geld und politischem Einfluss. Er beginnt als überzeugter Royalist. Doch schon während der Juli-Revolution 1830 wandelt er sich zum Republikaner. Was ihn nicht daran hindert, sich wieder dem Königshaus anzunähern. Sein Journal ist voll von Berichten über seine persönlichen Begegnungen mit dem König und den ihn umgebenden Politikern. In Paris führt er das gesellschaftlich aufwendige Leben eines wohlhabenden Citoyens, der im adligen Oberhaus des Parlaments politischen Einfluss ausübt. Gleichzeitig radikalisieren sich seine Vorstellungen: Während der Februar-Revolution von 1848, die den König ins Exil zwingt, steht Hugo voller Überzeugung auf der Seite der revolutionären Republikaner.
Ich verstehe nicht, dass man vor der Souveränität des Volkes Angst hat, das Volk sind wir alle, das ist so, als hab man vor sich selbst Angst.
Doch als dann im Juni das Volk erneut auf die Barrikaden geht, wendet sich Hugo entsetzt ab: Mit dem Proletariat, das gegen seine unwürdigen Lebensbedingungen aufbegehrt, will er nichts zu schaffen haben. Über die brutale Niederschlagung des Aufstandes mit über 5.000 Toten findet sich kein Wort in seinem Journal. Das „Volk“, das sind für den Bürger Victor Hugo in erster Linie die Bürger. Gleichwohl gehört sein ganzes Herz den einfachen Leuten, den Menschen, denen er bei seinen ausführlichen Spaziergängen täglich auf der Straße begegnet und denen er aufmerksam „aufs Maul schaut“. Viele Dutzend Szenen solcher Begegnungen hält er fest, wobei sein besonderes Interesse den oft wegen Bagatellen Jahre lang eingesperrten Gefängnisinsassen gilt, die er immer wieder besucht.
Wenn man alle Aspekte berücksichtigt, dann ist die Gesellschaft ihnen gegenüber schuldiger, als sie es gegenüber der Gesellschaft sind. Wir können sie fragen: „Was hast du mit meinen Pfirsichen gemacht?“ Aber sie können antworten: „Was habt ihr mit unserer Intelligenz gemacht?“
Im emphatischen Sinn Victor Hugos für Gerechtigkeit findet man die Parallele zwischen seinen hier zusammengetragenen politischen Erfahrungen und seinem literarischen Werk. Sein Gerechtigkeitssinn macht ihm zu einem unermüdlich kämpfenden Gegner der Todesstrafe, lässt ihn 1852 zum Feind des Staatsstreichs Napoleon III. werden und bringt ihm die Verbannung ins Exil auf Jersey ein. Als er 1870 daraus zurückkehrt, bereiten ihm abertausende von Pariser einen triumphalen Empfang. Gerührt notiert er. „Wie dieses Volk mich liebt!“ Um gleich danach aber hinzuzufügen: „Und wie ich es liebe!“
WDR 3 Kultur am Mittag 4. Juli 2023