Eine Reportage vom Schauplatz seiner Komposition
„Descendons gaiement la Courtille“
Le Vieux Belleville: Man singt „À la Bastille“
À la bastille on aime bien
Nini Peau d’chien
Elle est si bonne et si gentille
On aime bien
Nini Peau d’chien
À la Bastille
Lustig geht’s allabendlich zu im „Le Vieux Belleville“, wenn die versammelte Gästeschar des Bistros zum Akkordeon von Madame Minelle gemeinsam in die Melodien des französischen Chanson-Repertoires einstimmt. Joseph Pantaléon, der Wirt, hat hier ganz bewusst diese alte Tradition des gemeinsamen Singens aufgegriffen.
(Joseph Pantaléo) J’ai décidé donc de créer l’ambiance musicale, le concept musical à travers la chanson populaire française et la chanson de rue surtout. – Quand on partait en goguette on se passait par exemple des messages à travers les chansons parce que les meetings politiques étaient interdits avant. Et donc on faisait passer le message à travers des chansons populaires. – Et puis progressivement on a créé des Guinguettes parce que quand on partait en goguette on buvait ce qu’on appelait le «vin de soif» qui s’appelait le guinguet.
Geht man vom Bistro „Le Vieux Belleville“ ein paar hundert Meter den Hügel hinab, auf dem das arme und ziemlich verwahrloste Pariser Stadtteil Belleville liegt, kommt man in ein Quartier, das früher die „Courtille von Belleville“ hieß. Heute existiert es nicht mehr unter diesem Namen. Aber vor 200 Jahren war es das Pariser Amüsierviertel schlechthin. – In einem Café, dessen Namen „La Vielleuse“ – „Die Leierspielerin“ – an diese Vergangenheit erinnert, erzählt der Pariser Stadthistoriker Maxime Braquet, warum es hier früher von „Guingettes“, „Goguettes“ und von Caberets nur so wimmelte.
(Maxime Braquet) Parce que les cabaretiers, les cafetiers ils payaient moins cher. C’était avent l’Octroi, donc on buvait moins cher là. Donc ça faisait venir les clients de Paris, des parisiens qui se promenaient, ils venaient là le dimanche ou les jours où on ne travaillait pas. Ici ça coutait moins cher. A ce moment-là des cabarets étaient encore à la moitié dans la campagne. Il y avait d’autres commerces et tout derrière il y avait des champs, des espaces de verdure, des parcs, c’était ça.
Die 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Blütezeit der Courtille von Bellville. Hier ging es das ganze Jahr über hoch her, doch zur Karnevalszeit feierte man nahezu exzessiv. – Das konnte auch Richard Wagner nicht entgehen, der zwischen 1839 und 1842 zum ersten Mal in Paris lebte. In seinem Aufsatz „Pariser Amüsements“ ließ er sich jedenfalls ausführlich über den Karneval in Paris aus und fragte griesgrämisch:
Haben sie nicht das ganze Jahr über Fasching und Spaß genug? Wozu dienen ihre dreißig Theater, wozu sind ihre Sänger, Komponisten und Virtuosen anders da als zu ihrem Vergnügen? Und ist dann das große Ereignis endlich gekommen, haben schon seine Vorbereitungen ihre Jugend verzehrt und ihre Wangen bleich gemacht.
Ob er sich in der Karnevalszeit auch in den Tanzsälen der Courtille umsah, ist nicht überliefert. Überliefert jedoch ist seine wohl Anfang Januar 1841 entstandene Chor-Komposition mit dem Namen „Descendons gaiement la Courtille“. – Die „Descente de la Courtille“, ein am frühen Aschermittwoch beginnender Karnevalszug, war der Höhepunkt des Karnevals dort. Nachdem sie die Nacht bei den Bällen in den Cabarets und den „Guingettes“ getanzt und sich betrunken haben, ziehen die Karnevalisten zu Abertausenden in einem drei Stunden dauernden Zug von der Courtille hinunter in die Pariser Innenstadt. Den beschreiben die meisten Zeitgenossen als ein bacchantisches Getümmel obszön kreischender Frauen und völlig betrunkener Männer. – Richard Wagner wird kaum an einem solchen Umzug teilgenommen und nur vom Hörensagen davon erfahren haben. In seiner Musik jedenfalls ist davon nichts zu spüren.
(Maxime Braquet) On lui a proposé un jour de faire la musique d’un Vaudeville, d’une comédie musicale sur le thème de la descente de la Courtille. On lui a demandé de composer un chœur. C’était prévu pour un tableau de la comédie musicale “La descente de la Courtille”. Aujourd’hui quand on l’entend on se dit “Mais ça ressemble à Offenbach !” C’est étonnant, ça ne ressemble pas du tout à Wagner, non? – Donc ça ressemblait à la musique enjouée, très légère, très facile.
Tatsächlich markieren die Pariser Jahre zwischen 1839 und 1842 und darin auch diese kleine Auftragsarbeit die Schwelle zwischen dem frühen kosmopolitischen „leichteren“ und dem späten nationalistischen „schwereren“ Wagner. – Sein Plan, als Opernkomponist in Paris zu reüssieren, scheiterte. Sein „Liebesverbot“ und sein „Rienzi“ fielen hier durch und er musste am Hungertuch nagen. Diese Niederlage ließen in ihm einen regelrechten Hass auf Paris entstehen. Noch 1870, während des Deutsch-Französischen Krieges, als die Preußen vor Paris standen, sagte er zu seiner Frau Cosima, er hoffe, dass Paris verbrannt würde. – Was dann glücklicherweise nicht geschah und man darum bis auf den heutigen Tag in Paris fröhlich singt.
Le Vieux Belleville: Man singt „À la Bastille“
À la bastille on aime bien
Nini Peau d’chien
Elle est si bonne et si gentille
On aime bien
Nini Peau d’chien
À la Bastille
WDR 3 Tonart 10. Mai 2023