Marie-Hélène Lafon: Joseph. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Atlantis Verlag. 160 Seiten. 20 Euro
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Geschichten über schlichte Menschen müssen, so scheint es, schlichte Geschichten sein. Zumindest hat es Gustave Flaubert so vorgemacht mit seiner Erzählung „Ein schlichtes Herz“ über die Dienstmagd Felicitas. Das liegt vielleicht daran, dass im Leben der einfachen Menschen scheinbar nicht viel geschieht. Denn es besteht fast vollständig aus Arbeit für andere. So wie Felicitas ihr Leben lang für eine reiche Witwe arbeitete, fristet Joseph sein Leben auf Milchbauernhöfen als Knecht, einem heute fast ausgestorbenen Beruf.
Joseph sieht, dass die anderen, die sein ganzes Leben lang mit ihm auf den Höfen arbeiteten, den Beruf gewechselt haben oder immer älter geworden und gestorben sind, an Suff, Krankheit oder Alter, an dem einen oder dem anderen oder allem auf einmal, – er ist der Einzige, der weitermacht.
Marie-Hélène Lafon hat ihre Geschichte an Flauberts Erzählung angelehnt, hat sogar einige Wendungen daraus übernommen wie etwa die, dass auch Joseph „wie jeder andere seine Liebesgeschichte gehabt“ hat. Doch im Unterschied zu der von Felicitas hinterließ Josephs gescheiterte Liebesgeschichte einen tiefen Schnitt in seinem Leben: Er verfiel dem Suff. Vierzehn Jahre lang. Jetzt versucht Joseph diese Zeit, die ihm wie ein „Graben voll kaltem Schlamm“ in seinem Leben vorkommt, zu vergessen. Sorgfältig und schweigsam verrichtet er seine Arbeit auf dem Hof, dem letzten, auf dem er arbeiten wird. Er ist 55 Jahre alt und hat schon einen Platz im Altenheim. Bis dahin versorgt er Tag für Tag das Vieh und am Abend füllt er die Wasserkannen, mit denen die Bäuerin am Morgen die Geranien gießt… Die Geschichte dieses einfachen Knechtes Joseph ist – und auch darin Flauberts Erzählung ähnlich – nur an der Oberfläche eine einfache Geschichte. Denn sie geht nicht darin darauf, den Alltag und das Leben eines bescheidenen Menschen nachzuerzählen. Und es ist nicht allein Josephs Selbstgenügsamkeit, die den Leser dieser Geschichte berührt. Sondern dass sie von den Alternativen erzählt, die es im Leben Josephs gab, von den Möglichkeiten, die ungenutzt blieben: Dass er nicht die richtige Frau fand, dass er keinen eigenen Hof pachtete, kurz, dass er „kein Heim“ gründete.
Joseph hat kein Heim gegründet. Leute wie er gründen kein Heim.
Marie-Hélène Lafon erzählt vom Unglück im Leben Josephs völlig undramatisch, eher nebenbei und aus seiner eigenen, distanzierten Sicht darauf Jahre später. Die Gelassenheit, mit der er sein Schicksal ohne jede Verbitterung annimmt, macht ihn zu einer ergreifenden literarischen Figur.
Im Koffer vom Onkel Gustav bewahrte er noch einen Umschlag mit Geld für sein Begräbnis auf, er legte jeden Monat etwas auf die Seite, seit er auf diesem Hof arbeitete, er hatte einen Artikel in der Zeitung gelesen, Beisetzungen wären teuer, er hatte dieses Wort auf den Umschlag geschrieben, Beisetzung, in Großbuchstaben.
Flauberts berührende Erzählung endet mit dem Tod der Dienstmagd Felicitas. Marie-Hélène Lafons nicht minder berührende Geschichte endet mit der Beerdigung von Josephs Mutter. Flaubert ließ Felicitas bei ihrem letzten Atemzug eine Erscheinung haben. Denn sie war für ihn so etwas wie eine Heilige. Ob Marie-Hélène Lafon Joseph für einen Heiligen hält, bleibt in ihrer Erzählung offen, es liegt aber nahe.
WDR 5 Bücher 3. Juni 2023