Dirk Oschmann, Der Osten, eine westdeutsche Erfindung. Ullstein Verlag. Februar 2023. 224 Seiten. 20,00 Euro.
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Das Erstaunlichste an diesem Buch ist, dass es mehr als dreißig Jahren nach seiner eigentlichen Themenstiftung, der deutschen Wiedervereinigung 1990 nämlich, immer noch so viel Staub aufwirbelt. Alles, was Dirk Oschmann dazu sagt, ist bereits gesagt worden. Allerdings noch nie in einem so zornigen und polemischen Ton, wie er ihn anschlägt. Mit seinen in einer Art Wutrausch vorgetragenen, oft undifferenzierten Argumenten versteigt er sich ein ums andere Mal zu Übertreibungen, die kaum unwidersprochen hingenommen werden können. Die heftigen und oft ablehnenden Reaktionen auf sein Buch sind aber nicht nur durch seinen Ton begründet. Sondern sie zeugen auch davon, dass Oschmann offenbar auf Wunden zeigt, die man hierzulande, und das heißt im Westen, am liebsten schon längst geheilt sehen würde.
Im seit 1989 herrschenden Diskurs heißt „Osten“ vor allem Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, heißt also Scheitern auf ganzer Linie – um nur die wichtigsten der vom Westen erfolgreich eingeführten Zuschreibungen zu nennen, die er auf diese Weise zugleich elegant aus der Selbstwahrnehmung ausgegliedert hat. „Osten“ ist immer das, was man nicht haben will, das Fremde und falsche Andere einer wesentlich niedrigeren Zivilisationsstufe.
In Oschmanns Sicht trugen westdeutsche Historiker wie Arnulf Baring oder Heinrich August Winkler dazu bei, diese negativen Zuschreibungen zu einer Erzählung zu verdichten, die die Mediokrität Ostdeutschlands als historische Tatsache festschreibt. Es geht ihm einerseits um die Analyse solcher Zuschreibungen und die daraus resultierenden Gefühlslagen der Demütigung und Minderwertigkeit. Es geht ihm aber auch um manifeste materielle Benachteiligungen und Ungleichheiten. Hier wird seine Argumentation manchmal redundant, denn er wird nicht müde, immer wieder aufzuzählen, wie unterrepräsentiert im Osten die Ostdeutschen – abgesehen von der Politik – in den Führungspositionen aller entscheidenden gesellschaftlichen Bereiche sind. Dass sie über weniger Kapital verfügen und oft so viel weniger verdienen, dass der Osten in bestimmten Branchen als Billiglohnzone missbraucht wird…
Das Thema, das mich beschäftigt, ist von Soziologen, Politologen und Zeithistorikern schon so differenziert und mit genauen aktuellen Daten unterlegt, dass ich dem gar nichts hinzuzufügen habe. Der Herrschaftsanspruch des Westens zeigt sich noch darin, dass mein Text nur dann etwas gelten soll, wenn auch die Zustimmung des Westens vorliegt. Die Forderung nach Differenzierung ist der charakteristische Ausdruck für das radikale NICHTWAHRHABENWOLLEN der gesamten Situation.
Undifferenziertheit und Übertreibung sind mithin Oschmanns Programm, seine Methode gleichsam, zu zeigen, dass sich an keinem der von ihm aufgezeigten Missstände bisher etwas geändert hat. Problematisch und widersprüchlich aber wird seine Argumentation aber oft dann, wenn er die Ostdeutschen gegen westdeutsche Vorurteile zu verteidigen sucht. Wenn er beispielsweise ostdeutsche Fremdenfeindlichkeit etwa durch mangelnde Erfahrung mit Zuwanderung erklären will. Im gleichen Atemzug aber muss er zugeben, dass man in der DDR die angolanischen und vietnamesischen Studenten und Arbeiter ghettoisiert hat. – Zu Recht jedoch weist er immer wieder auf den Geburtsfehler der deutschen Wiedervereinigung hin: Die Tatsache, dass der Osten dem westdeutschen Staat nur beitrat, es also keine neue gemeinsame Verfassung, noch nicht einmal eine neue gemeinsame Nationalhymne gab, scheint die Ungleichheit zwischen Ost und West noch auf lange Zeit zu perpetuieren. – Daran wird wohl auch Oschmanns Streitschrift nichts ändern. Sein Motiv, sie trotzdem zu veröffentlichen, scheint aber nicht nur, lange aufgestaute Wut abzulassen. An einem, und zwar an einem entscheidenden Punkt dreht er den Spieß um, verkehrt die negative Zuschreibung des Westens ins Gegenteil. Und zwar, wenn den Ostdeutschen „mangelndes Demokratieverständnis“ vorgehalten, ihnen aufgrund der Sozialisierung in der DDR-Diktatur gar „Demokratiefähigkeit“ ganz abgesprochen wird.
Erstens muss man Leuten, die, teils mit hohem persönlichen Risiko, eine Diktatur in die Knie gezwungen haben, nicht erklären, was Demokratie ist. Der Osten hat ja nicht nur diese Diktaturerfahrung und dadurch etwa weniger politische Erfahrung, sondern ganz im Gegenteil, er hat ein Vielfaches an politischer Erfahrung, Diktaturerfahrung, Revolutions- und Umsturzerfahrung, dann Erfahrungen in unmittelbarer Basisdemokratie und schließlich Erfahrungen mit der gegenwärtigen Spielart der Demokratie.
So erwächst aus Oschmanns Polemik am Ende doch noch die Zuversicht, dass aus der in Ostdeutschland versammelten politischen Erfahrung ein Selbstbewusstsein entstehen könnte, das der negativen westlichen Zuschreibung endlich Paroli bietet. Womit dann das Terrain für eine tatsächliche, nämlich eine Wiedervereinigung von zwei gleichwertigen und gleichberechtigten Teilen Deutschlands bereitet würde.
WDR 3 Gutenbergs Welt 22. April 2023