Knut Hamsun, Hunger

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Knut Hamsun, Hunger. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. Manesse-Verlag. 256 Seiten. 25 Euro

Mit dem Romanerstling Knut Hamsuns beginnt die literarische Moderne. Autoren wie James Joyce oder Franz Kafka nahmen sich die radikale Subjektivität von „Hunger“ zum Vorbild. Die Neuübersetzung beruht auf der Erstausgabe von 1890 , denn Hamsun überarbeitete alle weiteren Ausgaben im Geist seiner wachsenden faschistischen Ideologie.

Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiania umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist.

Mit diesem poetisch schwingenden und zugleich Unheil verkündenden ersten Roman-Satz beginnt die literarische Moderne. So jedenfalls haben es Knut Hamsuns Verehrer und Nachfolger von James Joyce über Franz Kafka bis zu Alfred Döblin gesehen. Mit seinem 1890 erschienenen Erstlingswerk brach Hamsun radikal sowohl mit der realistischen Erzähltradition der Victor Hugos und Emile Zolas als auch mit dem gesellschaftskritischen Naturalismus etwa seines Landmannes August Strindberg. In „Hunger“ geht es fast ausschließlich um die subjektive Befindlichkeit eines einzigen Individuums, des namenlosen Erzählers. In der ersten Hälfte des Romans bleiben – bis auf die präzisen topgrafischen Angaben über die später Oslo genannte Stadt Kristiania – Umwelt und Gesellschaft nahezu ausgeblendet. Der Erzähler, ein Schriftsteller, der mühsam und meist erfolglos kleine Feuilletons an Zeitungen zu verkaufen sucht, berichtet allein von sich selbst, seinen körperlichen und psychischen Zuständen. Andere Personen tauchen in dieser Welt quälerischer Introspektion allenfalls als Stichwortgeber auf. Die Handlung beschränkt sich darauf, dass der Erzähler etwas zu Papier bringt, damit zu einem Redakteur geht, der ihn aber hinhält, so, dass er über Tage und Wochen keinen Pfennig Geld in der Tasche hat, die Miete nicht mehr zahlen kann, obdachlos wird und hungern muss. 

Wer doch bloß ein wenig Brot zu sich nehmen könnte! So ein herrliches kleines Roggenbrot, von dem man abbeißen konnte, während man durch die Straßen lief. Ich hungerte bitterlich, wünschte mich tot und begraben, wurde sentimental und weinte.

Doch nicht nur der körperliche Hunger quält den Erzähler und unterminiert zuerst seine physische, dann immer mehr auch seine psychische Gesundheit. Es geht auch um den Hunger nach Anerkennung: Taugt das überhaupt, was der noch junge Schriftsteller schreibt? Ist er wirklich das Genie, für das er sich manchmal hält? Ständig schwankt der Erzähler zwischen Größenwahn und Selbsterniedrigung, so, wie er in seinem sozialen Leben zwischen unterwürfiger Demut und grenzenloser Überheblichkeit hin- und her gerissen ist. Insofern ist „Hunger“ eine äußerst präzise Charakterstudie. Das auffälligste Merkmal dieses Charakters ist sein beleidigter Stolz: Im zweiten Teil des Romans, in dem auch andere Personen eine Rolle spielen, lässt der Erzähler keine Gelegenheit verstreichen, ihm angebotene Hilfe trotzig abzulehnen, und sei es um den Preis des ihn allmählich in den Wahnsinn treibenden Hungerns. Als eine Frau, die er im dritten Abschnitt des Romans kennengelernt und mit der er eine kleine erotische Affäre begonnen hatte, ihm heimlich zehn Kronen zukommen lässt, versinkt er darüber in Scham.

Ich sank, sank an allen Ecken und Enden, wohin ich mich auch wendete, sank bis zu den Knien, sank bis zur Hüfte, tauchte unter in Schande und kam niemals wieder nach oben, niemals! Das war der Tiefpunkt! Zehn Kronen als Almosen annehmen, ohne sie dem heimlichen Spender vor die Füße werfen zu können.

Für den Leser ist diese in eine schroffe Sprache verpackte, beinahe psychotische Selbstzerfleischung eine anstrengende Lektüre. Trotz vieler komischer Momente erträgt man nur schwer die Gnadenlosigkeit, mit der Hamsun seinen Erzähler in den Wahnsinn treibt. Bewundernswert aber ist die erzählerische Konsequenz, mit der er das tut und den Wahn zuerst schleichend, dann aber immer beklemmender als Wirklichkeit ausgibt. Am Schluss, um dem Elend in Kristiania zu entkommen, heuert der Erzähler in einer traumähnlichen Szene auf einem Schiff mit dem rätselhaften Namen „Copégoro“ an. Dessen Ziel, sagt der Kapitän, ist Leeds. Doch Leeds ist eine Stadt, die keinen Hafen besitzt. Sie liegt mitten in Nordengland.

WDR 3 Kultur am Mittag, 15. März 2023