Franzobel, Einsteins Hirn. Roman. Hanser-Verlag 2023. 544 Seiten. 28 Euro.
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In einer erfundenen wahren Geschichte lässt der österreichische Schriftsteller Franzobel den Pathologen Thomas Harvey bei der Obduktion Albert Einsteins dessen Hirn stehlen und sein ganzes Leben obsessiv mit sich herumschleppen. Diesen Pathologen gab es wirklich. Franzobel macht aus seiner Geschichte ein Feuerwerk skurriler Einfälle. Eine wahre Geschichte über das obduzierte Hirn eines berühmten Mannes zum Anlass für eine hanebüchene erfundene Geschichte zu nehmen, ist keine neue Idee. Bereits 1991 war der Schriftsteller Tilman Spengler darauf gekommen und hatte die wahre Geschichte des deutschen Neurologen Oskar Vogt, der das Hirn Lenins untersuchte, neu erfunden. (Tilman Spengler, Lenins Hirn). – Ob Franzobel dessen Idee geklaut hat oder nicht, ist eigentlich wurscht, denn er hat die wahre und eigentlich traurige Geschichte des obsessiven Pathologen Thomas Harvey in eine höchst witzige erfundene Geschichte verwandelt. Das scheint allmählich Franzobels Markenzeichen zu werden: Aus wahren Geschichten erfundene Geschichten zu machen. Bereits sein letzter Roman „Das Floß der Medusa“ griff die Geschichte eines Schiffsbruchs aus dem 19. Jahrhundert auf.
Am 18. April 1955 starb Albert Einstein in einem Krankenhaus in Princeton an einem Aneurysma. Wie in solchen Fällen üblich, wurde sein Körper obduziert. Der diensthabende Pathologe, Thomas Harvey, kam während der Obduktion auf die Idee, das Hirn an sich zu nehmen und stahl es aus dem Krankenhaus. Obwohl er nicht dazu in der Lage war, es wissenschaftlich auf die Genialität seines Besitzers hin zu untersuchen, schleppte er es ganze 42 Jahre in einem Einmachglas mit sich herum. Erst ein paar Jahre vor seinem Tod gab er es zurück. Das ist eine wahre Geschichte. Der österreichische Schriftsteller Franzobel hat daraus eine erfundene Geschichte gemacht. Hat die ohnehin schon absurde Idee, ein Hirn zu stehlen und mit sich herumzutragen, zum Anlass genommen, ein Feuerwerk ebenso absurder und komischer erzählerischer Kabinettstücke abzubrennen. Er erfindet das Leben des Pathologen neu von dem Augenblick an, in dem Harvey zur Rechtfertigung seines Diebstahls der Presse die Erforschung des Hirns verkündet. Seine Frau Elouise schneidet daraufhin sämtliche Zeitungsartikel darüber aus, steigt damit in den Keller, wo das Einmachglas mit dem Hirn im Regal steht und zeigt ihm die Ausschnitte.
Da siehst du, was du anrichtest, du Eißweißklumpen. Wegen dir verliert mein Mann noch seinen Verstand. Man sollte Katzenfutter aus dir machen. – Das Hirn zeigte keine Reaktion.
Das wird sich aber bald ändern. Denn wenig später sitzt Thomas Harvey in seinem Keller und betrachtet sinnierend das Hirn im Einmachglas.
Dieses Gehirn hatte Zeit und Raum ausgehebelt, das gesamte Universum erfasst, war Gott auf die Schliche gekommen – und befand sich jetzt in seinem Keller. Plötzlich änderte sich das Licht. „I wot a Frou!“ Wie ein Peitschenschlag zuckte der Satz durch den Raum. Wie ist das möglich? Die Stimme traf Harvey wie eine Abrissbirne. „I wot a Frou!“ wiederholte das Hirn. Eine Frau? Ein ziemlich profaner Wunsch für das Hirn eines Genies.
Das aus einem Einmachglas sprechende Hirn Albert Einsteins ist der witzigste Einfall Franzobels in seinem an Witzen und skurrilen Einfällen gewiss nicht armen Buch. Denn Thomas Hervey stolpert – wie sein reales Vorbild – nach dem Diebstahl nicht nur die soziale Treppe hinunter, verliert Job und Frau und landet schließlich ganz unten als Fabrikarbeiter. Wie ein Wiedergänger Forest Gumps stapft er dabei auch durch alle wichtigen Stationen der US-amerikanischen Geschichte der 1960er Jahre: Mit seinem jüngsten Sohn, der sich freiwillig meldet, setzt er sich mit dem Vietnamkrieg auseinander. Er zeigt Einsteins Hirn die Mondlandung, gerät in eine Bürgerrechtsdemonstration von Martin-Luther-King-Anhängern, erlebt hautnah Kennedys Ermordung und fährt mit Hippies zum Woodstock-Festival. Dass ihm und dem Hirn dabei die schrägsten Sachen widerfahren, gehört zur auf Pointen getrimmten Erzählstrategie Franzobels. Doch verbraucht sich der Witz im Fortgang des Romans recht bald. Die Episoden, die auf den realen Schwerenöter Albert Einstein anspielen, bewegen sich auf dem Niveau von Herrenwitzen herab, etwa, wenn Harvey das Hirn zu einer Prostituierten trägt. Ebenfalls etwas unter Niveau, nämlich reichlich trivial, geraten auch die Dialoge Harveys mit dem Hirn.
„Glauben Sie an Gott?“ „Die Frage ist, ob Gott an mich glaubt. Ich verehre die Schönheit der Naturgesetze und die Harmonien in Mozarts Streichquartetten. Aber Religion? Die dient doch nur zur Bewältigung der Furcht, um eine Moral zu etablieren, oder im besten Fall, um sich mit dem Kosmos zu verbinden.
Ab der Mitte plätschert „Einsteins Hirn“ im Gleichklang mit dem um Witzigkeit bemühten Plauderton Franzobels dahin. Das liegt daran, dass hier zu ausufernd geplaudert wird. 300 statt der 538 Seiten hätten es auch getan und einen Spannungsgewinn bedeutet. Der Spannungsverlust hängt aber auch mit der mangelhaften erzählerischen Ökonomie des Romans zusammen. Anfangs tritt neben den auktorialen ein Ich-Erzähler, ein FBI-Agent, der das Schicksal des als Kommunistenfreund verdächtigen Einstein auch nach dessen Ableben im Auge behalten soll. Diesen Ich-Erzähler aber verliert der Autor recht bald aus dem Auge und bringt ihn schließlich als Psychiatrie-Patienten ganz zum Schweigen. Mit einer etwas anspruchsvolleren Konstruktion aber hätte der schöne Einfall, Einsteins Hirn zum Sprechen zu bringen und daraus eine Geschichte zu machen, sicher länger getragen.
WDR 3 Kultur am Mittag 20. Februar 2023