Bret Easton Ellis, The Shards. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch. 736 Seiten. 28 Euro.
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/lesefruechte/the-shards-100.html
Bret Easton Ellis` neuer Roman spielt im Jahr 1981 an einer Elite-Privatschule in Los Angeles. Der autofiktionale Ich-Erzähler Ellis gehört dort zur Clique der schönsten und beliebtesten Abschlussschüler. Er ahnt, dass ein Serienkiller, der in der Umgebung sein Unwesen treibt, jemand aus dieser Clique ist und es als nächstes auf seine Freundin abgesehen hat. – Lange bevor das autofiktionale Schreiben – zuletzt durch Annie Ernaux – in Mode kam, gab es das metafiktionale Schreiben. Das heißt Romane und Erzählungen, die mit ihrer Fiktionalität spielen, die das autobiografische Erinnern und seine Umsetzung in Fiktion selbst thematisieren. Spätestens mit seinem neuen Roman erweist sich Bret Easton Ellis als ein solcher, literarisch absolut auf der Höhe der Zeit arbeitender Autor. Schon in seinen früheren Romanen gab es ständig Querverweise auf seine Biografie und seine übrigen Werke. „The Shards“ nun ist eine überaus unzuverlässige Konstruktion: Zum einen ist der Erzähler selbst, der sich Bret Ellis nennt, ein nur scheinbar autobiografischer, in Wahrheit aber so unzuverlässiger Erzähler, dass die Leser ihn gegen Ende des Romans selbst für den Mörder halten können, nach dem er sucht. Der Serienmörder-Thriller, den er schreibt, könnte also bloß ein Vorwand sein, sich mit seiner eigenen, verwahrlosten und seelenlosen Existenz – und damit auch dem gesellschaftlichen Milieu, dem er entstammt, auseinanderzusetzen. Spätestens aber, als der Erzähler, der hier nie vom Autor zu trennen ist, die Leser auf Kurt Vonneguts metafiktionales Meisterwerk „Schlachthof 5“ von 1969 stößt, wird klar, dass Bret Easton Ellis mit „The Shards“ mehr vorhatte, als einen weiteren Serienmörder-Thriller zu schreiben.
Käme irgendein „Tatort“ wieder einmal mit einem Serienkiller daher, würde man sofort ausschalten. Herrje, – können die sich denn nichts Originelleres einfallen lassen? Dass ein so renommierter Bestsellerautor wie Bret Easton Ellis eben mit diesen billigsten Mitteln des Thrills arbeitet, ist seit seinem Welterfolg „American Psycho“ bekannt. Doch gerade, weil er mit dem allertrivialsten Erzählmaterial arbeitet, weil er neben dem Horror unendlich langweilige Protagonisten und Dialoge die Handlung tragen lässt, sind seine Romane so kunstvoll und ästhetisch überzeugend. – Auch in „The Shards“ – deutsch „Die Scherben“ – versteht es Ellis, seine detailversessene, realistische Erzählweise so auf die Spitze zu treiben, dass sie in extreme Künstlichkeit umschlägt. Ein Phänomen, das der Ich-Erzähler namens Bret Ellis an sich selbst erlebt.
Man kam wirklich mühelos durch den Tag, wenn man erst einmal zu heucheln gelernt hatte, und durch das veränderte Auftreten wurde das Ganze sogar realer, das Schauspiel wurde zur Wirklichkeit, und es veränderte alles auf eine scheinbar positive Weise. Tatsächlich war es der Wirklichkeit vorzuziehen.
Der 17-jährige Erzähler Bret Ellis – scheinbar identisch mit dem Autor Bret Easton Ellis – sieht sich aus mehreren Gründen zu dieser Verstellung gezwungen. Zum einen ist er schwul, muss das aber vor seinen Mitschülern an der elitären Buckley-Privatschule in Los Angeles verschweigen, sonst gehörte er nicht mehr zum Kreis der Schönsten und Beliebtesten. Und darauf, auf die teilnahmslose Oberflächlichkeit dieser reichen Hedonisten, legt er größten Wert.
Ein siebzehnjähriger Junge, der in Privatschuluniform in einem Mercedes-Cabrio über den Mullholland-Drive braust… Sah ich wie ein Arschloch aus?, fragte ich mich kurzzeitig, ehe ich dachte: Ich sehe so cool aus, dass es mir egal ist.
Zum anderen muss Bret verbergen, dass er einem von den Medien „Trawler“ genannten Serienkiller dicht auf der Spur zu sein glaubt. Der „Trawler“ verfährt – wie viele seiner realen Vorbilder im Kalifornien der 1980er Jahre – immer nach dem gleichen Muster: Zuerst bricht er in die Wohnung seiner Opfer ein, verstellt die Möbel, dann tötet er deren Haustiere und schließlich entführt, quält und tötet er sie sie selbst. Und Bret hat bereits so viele Anhaltspunkte gesammelt, dass er ausgerechnet einen neuen Mitschüler, Robert Mallory, verdächtigen muss, dieser „Trawler“ zu sein. – Seine ungeheure Spannung zieht der Roman daraus, dass er diese Verdächtigungen immer konkreter werden und den Killer dem Erzähler und seinen Freunden immer näherkommen lässt. – Doch ist „The Shards“ eben nicht nur ein Thriller. Hinter der spannenden Handlung und in der autofiktionalen Konstruktion verbirgt sich ein äußerst komplexer Gesellschaftsroman.
Auch wenn wir über den Rassismus des Clubs im Bilde waren, maßen wir dem keine wirkliche Bedeutung bei, weil es das Jahr 1981 einfach nicht von uns verlangte. Wir waren Teenager, die sich mit Sex und Popmusik beschäftigten, mit Filmen und Prominenten, mit Lust und kurzlebigen Phänomenen und unserer eigenen neutralen Unschuld.
Bret Easton Ellis‘ „The Shards” ist ebenso wenig ein „normaler“ Thriller wie ein gesellschaftskritischer Roman im landläufigen Sinne. Ellis bezieht keinen kritisch-moralischen Standpunkt über der Gesellschaft. Aber dadurch, dass die Abgestumpftheit und Seelenlosigkeit seiner Protagonisten als „normal“, als mit den Normen der Gesellschaft im Einklang beschrieben werden, erscheint die Gesellschaft als Ganzes als krank.
WDR 5 Bücher 4. Februar 2023