In ihrem jüngsten Buch erzählt Annie Ernaux ohne erotischen Kitsch und ohne Sentimentalität von einer Affäre, die sie als 54-jährige mit einem 25-jährigen Studenten hatte. Ein weiterer Baustein weiblicher Selbstermächtigung ihres autobiografischen Werkes.
https://www1.wdr.de/kultur/buecher/ernaux-der-junge-mann-104.html
Dass und warum sich ältere Männer erotisch zu jungen Frauen hingezogen fühlen, ist kein Geheimnis und längst auch schon ein literarisches Genre. Oft gerät das Thema dort allerdings zu Altherrenkitsch, selten wird es so reflektiert behandelt wie in Max Frischs autobiografischem Klassiker „Montauk“. Das umgekehrte Geschlechterverhältnis – ältere Frau liebt jungen Mann – ist in der von Frauen geschriebenen Literatur seit Colettes „Cheri“ zwar auch ein klassischer Stoff. In den Niederungen autobiografischer Werke bleibt es allerdings selten von Peinlichkeiten frei. Davon kann beim neuesten, sehr dünnen, nur 41 Seiten zählenden Werk der durchweg autobiografisch schreibenden Annie Ernaux natürlich überhaupt nicht die Rede sein
Bei der Betrachtung des älteren Paars am Nebentisch ging mir auf, dass ich mit einem Fünfundzwanzigjährigen zusammen war, um nicht ständig das gezeichnete Gesicht eines Mannes in meinem Alter vor mir zu haben, das meines eigenen Älterwerdens. Neben A.s. Gesicht war auch meins jung. Männer wissen das seit ewigen Zeiten, also sah ich nicht ein, warum ich es mir hätte versagen sollen.
Die Erzählerin, wie in allen Büchern Annie Ernaux‘ weitgehend identisch mit der Autorin, ist also durchaus stolz auf diese Affäre mit dem Studenten, der ihr Sohn sein könnte. Sie genießt die sexuelle Lust, die er bereitet, genießt es, mit ihm zu reisen, – natürlich auf ihre Kosten. Und sie genießt es, ihn in das bürgerliche Leben zu initiieren, ihm Manieren beizubringen. Denn der junge Mann ist arm, stammt aus einer nordfranzösischen Arbeiterfamilie und ist damit sozusagen so etwas wie ihr Alter Ego. Die erzählerische Raffinesse dieses Textes besteht darin, dass sich in ihm das biografische Lebensthema der Autorin – ihr sozialer Aufstieg aus dem Proletariat – in der Gestalt eines anderen, eines Mannes, noch einmal materialisiert.
Vor dreißig Jahren hätte ich mich von ihm abgewandt. Damals wollte ich bei einem Mann nicht die Hinweise auf meine eigene Herkunft wiederfinden, auf all das, was ich für „prollig“ hielt und was ich, wie ich wusste ebenfalls in mir getragen hatte. Bei meinem Mann hatte ich mich als Proletin gefühlt, bei ihm war ich Bildungsbürgerin. Er war die verkörperte Vergangenheit. Mit ihm durchlief ich alle Alter des Lebens, alle Alter meines Lebens.
Was in gewisser Weise wörtlich zu nehmen ist. Denn die besondere literarische Qualität des „Jungen Manns“ besteht darin, dass die Autorin kunstvoll diesen mit einem anderen ihrer Texte verknüpft. Denn von der Wohnung des Studenten in Rouen hat sie einen direkten Blick auf das Krankenhaus, in das sie als 23jährige wegen einer starken Blutung nach einer heimlichen Abtreibung transportiert wurde. Eben diese Abtreibung aber war das Thema ihrer im Jahr 2000 geschriebenen Erzählung „Das Ereignis“. Mit deren Niederschrift beginnt sie, so erzählt sie in „Der junge Mann“, als sie sich von ihm trennt.
Als wollte ich ihn von mir lösen und abstoßen, so, wie ich es vor gut dreißig Jahren zuvor mit dem Embryo getan hatte.
Doch neben dieser kunstvollen „intertextuellen“ Verschachtelung liegt die herausragende Qualität des jüngsten Buches von Annie Ernaux darin, dass sie sich hier endgültig von ihrer Opferrolle verabschiedet. Zwar war sie in allen anderen ihrer Texte die souveräne Herrin des Erzählten. Aber sie beschrieb sich darin mehr oder weniger auch als Objekt – vor allem als ein Produkt ihrer sozialen Herkunft. Ihre Lebensgeschichte und damit auch das Thema ihrer Bücher, war und ist die Emanzipation von dieser Prägung. Im „Jungen Mann“ aber kann sie sich endlich als eine Siegerin präsentieren, die ihr Erleben – und Leben – so im Griff hat, dass sie es leichthändig in eine Fiktion verwandeln kann.
Auf mehr als einem Gebiet – Literatur, Theater, bürgerliche Sitten – sorgte ich für seine Initiation, aber all die Dinge, die ich dank ihm erlebte, waren auch für mich eine Initiationserfahrung. Der Hauptgrund, warum ich unsere Geschichte fortführen wollte, war, dass sie in einem gewissen Sinne bereits stattgefunden hatte und ich darin eine fiktive Figur war.
WDR 3 Kultur am Mittag Lesestoff 16. Januar 2023