Am vergangenen Wochenende gab es bundesweit Demonstrationen gegen den Abriss des Braunkohle-Dorf Lützerath. Sie werden wohl nichts bringen, denn nach Gerichtsbeschlüssen steht fest: Ab der kommenden Woche darf grundsätzlich geräumt werden. Allerdings kann es zu weiteren Eskalationen kommen. Die Besetzer geben nicht auf. Beide Seiten inszenieren so etwas wie den Ausnahmezustand, eine Notstandsituation.
Nimmt man die Rhetorik der Beteiligten ernst, scheint im Dörfchen Lützerath der Fall eines Ausnahmezustandes bzw. Notstandes vorzuliegen. Staatsrechtlich wäre das ein Zustand der Bedrohung der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der außerordentliche Maßnahmen zur Gefahrenabwehr erfordert: Der für die Sicherheit und Ordnung in NRW zuständige Innenminister Herbert Reul hat zwar nicht den Notstand erklärt, aber es klingt fast so, wenn er einen „Großeinsatz“ von mehreren Tausend Polizisten angekündigt: „Mit einem Schlag“ sollen die Besetzer des Dorfes „entfernt“, Barrikaden „beseitigt“, Bäume gerodet und Häuser „sofort abgerissen“ werden. Die im Bündnis „Ende Gelände“ organisierten Besetzer fahren das gleiche schwerkalibrige rhetorische Geschütz auf: „Wir sind unräumbar. Wer Lützerath angreift, wird einen hohen Preis zahlen.“
Die kriegerische Sprache der Beteiligten liegt nahe. Denn die „außerordentlichen Maßnahmen“ im Notstand stehen außerhalb des Gesetzes. Not kennt kein Gesetz. – So weit sind wir in Lützerath allerdings nicht bzw. noch nicht. Die von der Landesregierung angekündigte Maßnahmen beruhen allesamt auf Gerichtsbeschlüssen, die wiederum auf geltendem Recht gründen. Ein solches Recht können, sagen die Gerichte, die Besetzer dagegen nicht für sich beanspruchen: Das Gelände gehört dem Konzern RWE, entsprechend können sie hier keine „subjektiven Rechte“ geltend machen. „Ziviler Ungehorsam“ sei mithin nicht gerechtfertigt.
Warum trotzdem das beiderseitige rhetorische Heraufbeschwören eines Ausnahmezustandes in Lützerath – und nicht nur da, sondern überall dort wo derzeit radikale Klimaaktivisten unterwegs sind? – Offensichtlich konkurrieren hier zwei völlig unterschiedliche Auffassungen von „Notstand“ miteinander. Die Klimaaktivisten erkennen in der Klimakrise eine existentielle Bedrohung, die in ihren Augen jetzt schon „außerordentliche Maßnahmen“ auf allen Ebenen staatlichen Handelns notwendig macht. Und da der Staat das in ihren Augen nicht oder nicht genügend tut, ergreifen sie selbst die Initiative. – Der Staat dagegen – in Lützerath in Person des Innenministers – sieht diese Aktivitäten offenbar als eine Bedrohung der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung an. Und erklärt seinerseits – rhetorisch zumindest – den Notstand.
Notstand gegen Notstand. Ein Normen- und ein Wertekonflikt. Die Klimaaktivisten berufen sich auf den allerhöchsten Wert, das Leben. Aber ist in Lützerath das Leben der Menschheit bedroht? Die Aktivisten meinen ja und belegen mit Gutachten, dass wenn das Flöz unter Lützerath abgebaut wird, das 1,5-Grad-Limit nicht mehr zu halten ist. Der Staat meint nein und legt Gegengutachten vor. Vor allem aber sieht er offenbar seine eigene Existenz, also die Öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht, und ruft die Gerichte an. Verfolgt man deren Argumentation jedoch etwas genauer, kann man ins Grübeln über die Werte geraten, die sie in Lützerath verteidigen. Es sind die Eigentumsrechte des Energiekonzerns RWE.
WDR3 Mosaik 9. Januar 2023