Francis Fukuyama, Der Liberalismus und seine Feinde

Veröffentlicht in: Allgemein, Rezensionen | 0

Francis Fukuyama, Der Liberalismus und seine Feinde. Aus dem amerikanischen Englisch von Karlheinz Dürr. Hoffmann und Campe 2022. 220 Seiten. 25 Euro

https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-gutenbergs-welt/frei-sein-100.html

Bescheidenheit ist keine nennenswerte Eigenschaft des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama. Obwohl alle Welt schon wenige Jahre nach ihrem Erscheinen 1989 seine These vom „Ende der Geschichte“ grundsätzlich widerlegt sah, hält er eisern an ihr fest. Nach wie vor ist für ihn der Liberalismus, also die die Freiheit der Einzelnen schützende demokratische Gesellschaftsform der weltgeschichtliche Höhe- und Endpunkt aller gesellschaftlichen Entwicklung. In seinem 2018 erschienenen Buch „Identität“ suchte er nach Erklärungen dafür, warum sich liberale Demokratien auch zu autoritären Regimes zurückentwickeln können. Für die etwa von Trump oder Orban betriebene „Identitätspolitik“, worunter er die Verabsolutierung nationalistischer Partikularinteressen versteht, machte er „Fehlentwicklungen“ liberaler Politik verantwortlich. Solchen vermeintlichen Fehlentwicklungen geht er auch in seinem neuen Buch nach. Ihm zufolge sind sie aus dem „Unbehagen“ am klassischen Liberalismus entstanden.

Wenn der Liberalismus als Regierungsform erhalten bleiben soll, müssen wir die Ursachen dieses Unbehagens verstehen lernen.

Es geht Fukuyama also nicht, wie der deutsche Titel des Buches suggeriert, um die „Feinde“ des Liberalismus, sondern um die „Discontents“, wie es im Originaltitel heißt, um die Unzufriedenheiten, die er hervorruft. Die aber habe sich der Liberalismus, das gesteht der Autor gleich zu Anfang ein, teilweise selbst zuzuschreiben. Und zwar, weil seine Prinzipien „überdehnt“ wurden, was dann zu „Fehlentwicklungen“ führte wie dem Neoliberalismus. Also zu Staatsverachtung und der Vergötterung der Marktkräfte. Allerdings bleibt Fukuyamas Kritik am Neoliberalismus moderat. Dessen Prämissen jedenfalls, schreibt er, seien korrekt gewesen. Und deshalb kann er Margaret Thatchers brutalen Kampf gegen die Gewerkschaften auch als „Heldentat“ feiern. – Dass etwas mit diesen „Prämissen“ und damit den Prinzipien des Liberalismus selbst nicht stimmen könnte, kommt Fukuyama nicht in den Sinn. Das wird deutlich bei seiner Auseinandersetzung mit einer vermeintlichen weiteren, der „linken“ „Fehlentwicklung“ des Liberalismus bzw. dessen „Unterwanderung durch progressive Identitätsgruppen“. Für die macht er vor allem das verantwortlich, was er als „Kritische Theorie“ bezeichnet.

Die extremeren Versionen der Kritischen Theorie verlagerten sich von einer Kritik der liberalen Praxis hin zu einer Kritik der dem Liberalismus zugrundeliegenden Prinzipien und suchten sie durch eine alternative, jedoch illiberale Ideologie zu ersetzen.

Was genau Fukuyama damit meint, kann er nicht deutlich machen. Was wohl auch damit zusammenhängt, dass er die „Kritische Theorie“ offenbar nur vom Hörensagen kennt. Er zitiert eben einmal zwei besonders bei der Linken in den USA populäre Titel von Herbert Marcuse und attestiert dann in einem Aufwasch Michel Foucault einen Hang zum „Verschwörungsdenken“. – Deutlich wird immerhin, dass er jede Kritik an dem von ihm als „klassisch“ bezeichneten Liberalismus rigoros ablehnt: Er kann und will nicht einsehen, dass die klassische liberale Freihandelspolitik zu fundamentalen globalen Ungerechtigkeiten führte und führt. Die enge Verknüpfung von Liberalismus und kapitalistischen Eigentumsrechten sieht er zwar, doch die daraus folgende soziale Ungleichheit spielt in seinem Buch kaum eine Rolle. Besonders sensibel reagiert Fukuyma, wenn es um die kolonialistische und damit auch rassistisch-patriarchale Grundierung des Liberalismus geht, wie sie der jamaikanische Philosoph Charles W. Mills beschrieben hat.

Es stimmt, dass liberale Gesellschaften in historischer Sicht andere Kulturen kolonisierten, ethnische Gruppen auch innerhalb der eigenen Grenzen diskriminierten und Frauen untergeordnete soziale Rollen zuwiesen. Aber zu behaupten, Rassismus und Patriarchat seien dem Liberalismus immanent, würde bedeuten, historisch bedingte Phänomene zu Wesenszügen der liberalen Doktrin umzudeuten.

Besser als der Autor es hier selbst tut, kann man seinen Denkfehler nicht dingfest machen: Die von Hobbes und Locke, Männern des 17. Jahrhunderts, verfasste „liberale Doktrin“ ist selbst ein historisches Phänomen. Und man kann nicht so tun, als sei sie ein über aller Geschichte schwebendes ewiges Gesetz. Das aber tut Fukuyama, der sich weigert, die theoretische Weiterentwicklung des Liberalismus ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Lediglich mit der Gerechtigkeitstheorie des Liberalen John Rawls beschäftigt er sich kurz, erklärt sie dann aber umstandslos zum „Irrglauben“. – Aus dem Grund kann die von ihm so vehement verteidigte „klassische“ liberale Doktrin vielleicht nicht die allerbesten Argumente liefern, wenn es um die Redefreiheit geht, die er in den liberalen Demokratien bedroht sieht: Einmal durch die wachsende ökonomische Medien-Macht einiger weniger. Zum anderen durch das Redeverbot einer vermeintlich „linken“ Identitätspolitik, das die Geistesfreiheit etwa an den Universitäten zunehmend verpestet. Immerhin aber gehört der Anspruch auf die Gleichheit aller Menschen zum Kern des Liberalismus. So kann Fukuyama am Ende wenigstens von dort aus eine Hand reichen.

Der Liberalismus mit seiner Prämisse einer universalen Gleichheit der Menschen muss den Rahmen bilden, innerhalb dessen Identitätsgruppen um ihre Rechte kämpfen sollten.

Die Frage ist allerdings, ob ausgerechnet der „klassische“ Liberalismus, wie Francis Fukuyama ihn versteht, das überhaupt leisten kann. Denn der von John Locke und John Stuart Mill entwickelte Verfassungsliberalismus ist im 20. Jahrhundert erheblich erweitert und etwa durch die materielle Rechtsstaatlichkeit bereichert worden. Fukuyama jedoch reduziert den Liberalismus auf Individualrechtsschutz und präsentiert in seinem manchmal wirren und völlig humorlosen Buch nichts anderes als das Modell eines gemäßigten Marktliberalismus. Es hat etwas Tragisches, dass er nicht über seinen Schatten springen und der liberalen Gesellschaft eine wirkliche Vision bieten kann.

WDR 3 Gutenbergs Welt 17. Dezember 2022