Fernando Aramburu, Die Mauersegler

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Fernando Aramburu, Die Mauersegler. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rowohlt. 830 Seiten. 28 Euro

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Albert Camus‘ Diktum, dass es nur ein ernstes philosophisches Problem gebe, nämlich den Selbstmord, lässt sich mühelos auf die Literatur übertragen. Seit Goethes „Werther“ wimmelt es in der ernsten Literatur von Selbstmördern. Gilt aber auch der Umkehrschluss, dass das Thema des Selbstmordes Literatur zu einer ernsten und damit guten Literatur macht? Man kann den Roman Fernando Aramburus als eine Probe aufs Exempel dazu lesen. Tatsache jedenfalls ist, dass der Ich-Erzähler dieses Romans, der an einem Madrider Gymnasium Philosophie lehrende, 54 Jahre alte Studienrat Toni, das Leben nicht liebt.

Mein Plan ist, mir innerhalb eines Jahres das Leben zu nehmen. Ich habe sogar schon die genaue Zeit festgelegt: 31. Juli, Mittwoch, nachts. Das ist die Frist, die ich mir gesetzt habe, um meine Angelegenheiten zu regeln und herauszufinden, warum ich nicht mehr weiterleben will. Ich hoffe, dass mein Entschluss unwiderruflich ist. Im Moment ist er es.

Diese zu Beginn des Romans gestellte Frage, warum er nicht weiterleben will, kann sich Toni schon 50 Seiten später selbst beantworten, als er eine Liste der Personen erstellt, die in einem Jahr um ihn trauern werden: Es gibt niemanden. Weder seine Ex-Frau Amalia noch sein Sohn, auch nicht sein bester Freund und erst recht nicht sein jüngerer Bruder Raoul werden eine Träne um ihn vergießen. Und das zurecht. Denn Toni ist das Gegenteil eines sympathischen Menschen; er ist ein Macho, Sexist und ein egozentrischer Misanthrop, außerdem ist er ein Langweiler. Die Philosophen, die er gelesen hat, kann er zwar zitieren, aber etwas anfangen kann er mit ihrer Philosophie eigentlich nicht: Sein Bild von der Welt ist leer und das wichtigste Gefühl, das ihn bisher am Leben erhalten hat, ist der Hass – auf alles und auf jeden.

Ich habe ziemlich viel gehasst, aber nur phasenweise, oft mit Überwindung; aber auch – das soll nicht verschwiegen werden – voller Lust. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass ich in meinem Leben mehr hätte hassen sollen, oder jedenfalls feuriger.

Im Folgenden lässt Fernando Aramburu seine Leser über 830 Seiten an dem Plan teilhaben, den sich Toni bei seinem Selbstmord-Entschluss für den Rest seines Lebens ausgedacht hat: Über jeden einzelnen der ihm verbleibenden 365 Tage führt er in einem Notizbuch Protokoll. Gleichzeitig entledigt er sich in dieser Zeit seiner sämtlichen Besitztümer, vor allem seiner umfangreichen Bibliothek. Die einzelnen Bände lässt er mehr oder weniger wahllos irgendwo in der Stadt liegen. Die Protokolle, die er führt und deren Zahl mit den Kapiteln des Romans übereinstimmt, nämlich 365, bestehen zum großen Teil aus Erinnerungen an sein Leben, sind Rückblenden. Vor allem denkt er voller Verbitterung an das zerstrittene Eheleben mit seiner schönen Frau Amalia zurück, die sich ihm irgendwann verweigerte. Und ihn damit zwang, so sieht er es jedenfalls, zu den Prostituierten zu gehen, worüber er dann ausführlich berichtet. – In den restlichen Tages-Protokollen berichtet Toni von seinem Alltag, von seiner ungeliebten Lehrtätigkeit, den unerfreulichen Begegnungen mit seinem missratenen Sohn Nikita und den Kneipengängen mit seinem einzigen Freund, bei denen sie ausufernd über den Selbstmord diskutieren.

Er erinnert mich an Cioran, der dazu dauernd volltönende Parolen von sich gab, und am Ende an Altersschwäche wohlversorgt in einem Krankenhaus starb. Die Umwandlung des Suizids in ein ich weiß nicht, ob zwanghaftes, jedenfalls wiederkehrendes Thema, scheint mir eine Finte zu sein, um ihn auf Distanz zu halten. Denn wenn über ihn nur meditiert, diskutiert und dialogisiert, er kurzum trivialisiert wird, wie kann er dann bedrohlich sein?

Die Frage muss man an den Autor weitergeben. Wer so wie er mit dem Thema umgeht, macht den Selbstmord nicht nur zu einem beiläufigen, mit vermeintlicher Ironie zu behandelnden Problem und verharmlost und banalisiert ihn damit. Der produziert auch schlechte Literatur. Natürlich ist der Selbstmord nichts Heiliges und man kann auch ironisch damit umgehen. Dazu fehlen Aramburu allerdings die literarischen Mittel. Sein Humor ist, vorsichtig gesagt, derb. Wenn es bei ihm um Sexualität geht, und das tut es oft, sinkt er ins Vulgäre und lässt kaum Peinlichkeiten aus. Seine Sprache hat keine echte Wucht, seinem Schreiben fehlt die Raffinesse: Der Plot der Geschichte des eigentlich langweiligen Antihelden Toni ist vorhersehbar und bemerkenswert trivial: Am Ende begegnet ihm eine frühere Geliebte und gibt ihm den Mut zum Leben und zum Lesen zurück. Der letzte Satz des Buches heißt: „Heute morgen habe ich mir ein Buch gekauft.“ Man kann nur hoffen, dass er damit mehr Glück hat als der Rezensent mit diesem Buch.

WDR3 Kultur am Mittag, 1. Dezember 2021