Giulia Caminito, Das Wasser des Sees ist niemals süß

Veröffentlicht in: Allgemein, Rezensionen | 0

Giulia Caminito, Das Wasser des Sees ist niemals süß. Roman. Übersetzt von Barbara Kleiner. Wagenbach. 320 Seiten. 26 Euro

Autofiktionales Erzählen gibt es nicht erst seit Annie Ernaux. Man hat den Eindruck, dass immer mehr Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu dieser Methode der literarischen Selbsterkundung greifen, die in den besten Fällen gleichzeitig eine soziologische Analyse ist, wie etwa bei Didier Eribon. Obwohl Giulia Caminito es im Nachwort ihres Romans ablehnt, ihn als Autofiktion einzuordnen, ist er doch nahe daran. Die Schriftstellerin wurde 1988 in Rom geboren, schloss ein Studium in politischer Philosophie ab, bevor sie sich dem Schreiben widmete. In Italien gilt sie schon als Bestseller-Autorin. „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ ist ihr dritter und der zweite ins Deutsche übersetzte Roman. Viele der Lebensdaten Giulia Caminitos stimmen mit denen der fiktiven Ich-Erzählerin überein, vor allem der Ort Anguillara Sabazina, in dem beide aufwachsen, – und mit ihm der nahe See, der Lago di Bracciano. Auch die beiden anderen Frauen, deren Biografien in die Erzählung mit einfließen, sind keine Fiktionen, sondern authentische Personen. Neben der überaus kraftvollen Sprache Giulia Caminitos ist es diese Authentizität, die den Roman zu einer beeindruckenden und überzeugenden Lektüre machen.

https://www.wagenbach.de/buecher/titel/1336-das-wasser-des-sees-ist-niemals-suess.html

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/lesefruechte/das-wasser-des-sees-ist-niemals-suess-104.html

Dem bildungsbürgerlichen Leser fällt zu diesem Buch zunächst einmal die Einordnung als „Bildungsroman“ ein. Denn auf den ersten Blick geht es darum, wie sich ein Mädchen, dann eine junge Frau, mit angsterregendem Willen und zwanghaftem Fleiß durch Bildung aus sozial prekären Familienverhältnissen herausarbeiten will. Mit Höchstnoten absolviert die Ich-Erzählerin Gaia nach der Mittelschule eine „Gymnasium für Reiche“, dann schreibt sie sich an der Universität ein.

Ich habe mich in Philosophie eingeschrieben, als Trotz, zu meinem Schaden. Dazu hat mich der Teil von mir geführt, die die anderen von meinem Wert überzeugen muss. Sie sagen Berufsausbildung, sagen Medizin, Chirurgie, Büro, und ich sage Martin Heidegger.

Womit gleich klar wird, mit welcher Art Person wir es hier zu haben, nämlich einer bis zur Unerträglichkeit widerständigen, grundstürzend rebellischen Person, kalt und scheinbar gefühllos, einer jungen Frau, in deren Bauch, wie sie selbst sagt, Steine wohnen. – Einem Jungen, der sie in der Mittelschule mobbt und der die Saiten ihres von der Mutter mühsam ersparten Tennisschlägers durchschneidet, zertrümmert sie mit eben diesem Tennisschläger die Kniescheibe. Später wird sie das Auto ihres Freundes abfackeln, weil er mit ihrer Freundin fremdgegangen ist und darauf hätte sie diese Freundin fast im See ertränkt, wenn sie dabei nicht gestört worden wäre. Gaia ist eine potentielle Mörderin. Gaia ist nichts für zartfühlende Leserinnen. Gaia ist keine wirkliche Sympathieträgerin. Dabei unternimmt sie im Laufe des Romans eigentlich nichts anderes als den Versuch, sich nach dem Vorbild ihrer Mutter Antonia zu formen.

Die Wahrheit ist, dass ich eine ganz, ganz winzige kleine Sache in mir trage, eine Eichel, ein Insekt, und das ist die Stimme meiner Mutter, der ich beweisen muss, dass ich etwas tauge.

Auch Antonia, die Mutter, ist eine gefühlsarme, harte Frau, eine Kämpferin. Mit 16 bekam sie ihr erstes Kind, seitdem kämpft sie ums nackte Überleben. Inzwischen hat sie vier Kinder und einen an den Rollstuhl gefesselten Mann. Auf einer illegalen Baustelle stürzte er vom Gerüst. Keine Versicherung kommt für ihn auf. Die Familie lebt in einem römischen Slum-Viertel von der Sozialhilfe. Um eine bessere Wohnung zu ertrotzen, stellt Antonia sich mit der kompletten Familie vor dem Wohnungsamt auf. Alle nackt bis auf die Unterwäsche. Anschließend wächst Gaia in einer Trabantensiedlung beim Lago di Bracciano nördlich von Rom auf und der See wird zum Spiegel ihrer vergeblichen Kämpfe und verlorenen Träume.

Ich bin die zerbrochene, undurchsichtige Frau, die, die sich an der Oberfläche spiegelt und die du immer nur zur Hälfte siehst.

Mit einer ungeheuer kraftvollen, in Barbara Kleiners Übersetzung intensiv wiedergegebenen Sprache stellt Giulia Caminito unsere Vorstellung vom Bildungsroman und den damit verbundenen naiven Glauben, man könne durch Bildung ein besserer Mensch werden, auf den Kopf. Zwar vollstreckt Gaia den Aufstiegswillen ihrer Mutter; dessen klassenkämpferische Gewaltsamkeit wird bei der Tochter aber zum Selbstzweck und beschädigt sie am Ende selbst. Mit dieser Romanfigur ist der erst 34järigen Giulia Caminito ein bewegendes Porträt ihrer eigenen Generation gelungen.

WDR 3 Bücher 12. November 2022