Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – Die Debatte

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Der neue Streit über die Wurzeln des Holocaust und die Gewalt im 20. Jahrhundert: Erneut steht die Frage im Raum: War der Holocaust ein singuläres Ereignis, und wie unterscheidet er sich von anderen Völkermorden? Heute geht es nicht mehr um den Vergleich mit den stalinistischen Gräueln wie noch beim ersten Historikerstreit 1986/87. Das drängende Problem der Gegenwart ist: Wie kann eine Gedenkkultur aussehen, die auch die lange verdrängten deutschen Kolonialverbrechen einbezieht?

Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte. Herausgeber: Susan Neiman und Michael Wildt. Propyläen Verlag 2022. 368 Seiten. 26 Euro. Mit Beiträgen von Omer Bartov, Yehuda Bauer, Sebastian Conrad, Mischa Gabowitsch, Mario Keßler, Sami Khatib, Volkhard Knigge, Per Leo, Eva Menasse, A. Dirk Moses, Susan Neiman, Jan Philipp Reemtsma, Ingo Schulze, Michael Wildt, Fabian Wolff und Benjamin Zachariah.

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Einen hintersinnigen Einstieg in die im Sammelband zusammengestellte Debatte liefert der in Karlsruhe lehrende Kulturwissenschaftler Sami Khatib: Es gehöre zu den Enttäuschungen seiner Schulzeit, schreibt er in seinem Beitrag, dass in der deutschen Grammatik Ausnahmen oft keine Begründung in der Sache haben. Eingeleuchtet habe ihm dagegen, dass es für das Adjektiv „einzigartig“ keinen Superlativ gebe. So etwas wie das „Einzigartigste“ sei schließlich ein logisches Unding. Und dennoch, heißt es weiter, gehöre es zu den Effekten der in Deutschland geltenden These, die Einzigartigkeit des Holocaust-Verbrechens sei mit keinem anderen vergleichbar, dass das staatliche Vorgehen Israels gegen die Palästinenser nicht nur nicht sanktioniert wird, sondern als Konsequenz einer „einzigartigen Moralität“ erscheint.

Die Moralität dieser ansonsten völkerrechtswidrigen Gewaltverhältnisse begründet sich hier in den singulären Sicherheitsbedürfnissen eines singulären Staates, der im Namen eines singulären Opferkollektivs und seiner Nachfahren zu sprechen behauptet.

Khatib ist neben dem australischen Historiker Dirk Moses eine der wenigen der im Band versammelten 15 Stimmen, die so scharfe Töne anschlägt. Trotzdem sind sich hier fast alle Diskutanten und Diskutantinnen darin einig, dass es an der deutschen Erinnerungskultur, die sich nach dem ersten großen deutschen Historikerstreit der Jahre 1986/87 gebildet hat, tatsächlich eine Menge zu kritisieren gibt. Dort hatte sich gegen die reaktionäre These, der Holocaust sei eine Antwort auf den stalinistischen Terror und mit diesem durchaus vergleichbar, die Auffassung durchgesetzt, die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden sei ein singuläres, also unvergleichbares Menschheitsverbrechen. Das darauf aufbauende „Erinnerungsregime“ sei, heißt es im Beitrag des Historikers Michael Wild, zur „Staatsräson“ des kurz darauf vereinten Deutschland geworden. Zu dieser deutschen Staatsräson gehört konsequenterweise auch die Sicherheit Israels. – Massive Zweifel daran wurden laut, als im Jahr 2020 der Politikwissenschaftler Achille Mbembe nicht nur Israels Politik mit der des südafrikanischen Apartheidregimes verglich. Er hielt es überdies für legitim, den Holocaust mit kolonialen Verbrechen zu vergleichen und als eine Art Verlängerung dieser Verbrechen einzuordnen. Darauf folgte eine überaus hitzige öffentliche Debatte um Kolonialgewalt und Holocaust, in der sich die einen – darunter Aleida Assmann und der Holocast-Forscher Wolfgang Benz – auf die Seite Mbembes stellten, andere Historiker wie Saul Friedländer und Norbert Frei aber entschieden gegen ihn. Der zweite große deutsche Historikerstreit um die Singularität des Holocaust war eröffnet.

Inzwischen behandeln manche Autoren die Singularitätsthese, als ob sie ein Teil der Heiligen Schrift wäre und nicht eine sinnvolle politische Intervention in einem bestimmten historischen Kontext.

Mit dieser Begriffswahl folgt die Mitherausgeberin des Bandes, die Philosophin Susan Neiman, dem Historiker Dirk Moses. Der gehört mit seiner Verspottung der deutschen Erinnerungskultur als „Katechismus der Deutschen“ und „religiösen Kult“ zu den exponierten Protagonisten dieser Debatte und auch zu den Hauptautoren dieses Bandes. Der wiederum ist als die Antwort auf das im Frühjahr dieses Jahres erschienene Buch „Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust“ zu verstehen. Darin zeigten Jürgen Habermas, Saul Friedländer, Norbert Frei, Dan Diner und andere, warum das Argument der Präzedenzlosigkeit des Holocaust als Zivilisationsbruch historisch gut begründet ist. Habermas räumte allerdings ein, dass sich die Gewichte im historischen Gedenken verschoben hätten und der Aufarbeitung kolonialer Verbrechen mehr Aufmerksamkeit zukommen müsse. Diesen Gedanken greift im vorliegenden Band der Globalhistoriker Sebastian Conrad auf.

Was wir im Kern beobachten, sind die Effekte der Ablösung eines Erinnerungsregimes durch ein anderes. Das historische Narrativ der Nachkriegszeit (Erinnerung I) wird durch einen veränderten Erinnerungshaushalt in der globalen Gegenwart herausgefordert oder zumindest ergänzt (Erinnerung II).

Davon, aus diesem Vorschlag eine friedliche Koexistenz der beiden Erinnerungskulturen – Holocaust und Kolonialverbrechen – zu konstruieren, sind die meisten der in diesem Band versammelten Diskutantinnen und Diskutanten weit entfernt. Eva Menasse schlägt den gleichen spöttischen, ja höhnischen Ton an wie Susan Neiman, die die Singularitätsthese als „moralisches Gebot“ für überholt hält. Und auch der israelische Historiker Omer Bartov widerspricht nur zurückhaltend den schrillen Thesen von Dirk Moses, wonach die als Ersatzreligion betriebene deutsche Erinnerungskultur instrumentalisiert werde, um die Eliten an der Macht und marginalisierte Minderheiten davon fern zu halten. – Im abschließenden Beitrag des Bandes weist Michael Wildt den Weg für einen möglichen Kompromiss.

Die Heftigkeit, mit der die Erinnerung an den Holocaust als Staatsräson verteidigt wird, (ist) darauf zurückzuführen, dass die dahinterstehende Vorstellung einer kulturell homogenen Gesellschaft, die ein kollektives Gedächtnis besitze, nicht mehr mit der sozialen Realität Deutschlands übereinstimmt.

Wer in Deutschland lebt, kann dieses Land nur verstehen, wenn er auch seine Nazi-Vergangenheit und den Holocaust versteht. Die Menschen mit migrantischem Hintergrund, die die heutige Gesellschaft prägen, haben aber auch einen Anspruch darauf, dass ihre eigenen Erinnerungen wahr und ernst genommen werden. Michael Wildt prognostiziert, dass es zu „Amalgamierungen, Überschneidungen, Verflechtungen und neuen generationellen Aushandlungen“ der unterschiedliche Erinnerungsnarrative kommen wird. Die Aufarbeitung des Holocaust ist ebenso wenig abgeschlossen wie der neuerliche Historikerstreit. Die Debatte um eine erneuerte historische Vergewisserung wird weitergehen. 

WDR 3 Gutenbergs Welt 15. Oktober 2022