Jetzt hat der Vorsitzende der polnischen nationalkonserativen Partei PiS, Jaroslaw Kaczynski, endlich die Katze aus dem Sack gelassen. Symbolträchtig zum 83. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, dem 1. September stellte er ein bereits 2017 in Auftrag gegebenes Gutachten vor, das die polnischen Reparationsforderungen an Deutschland auf enorme 1,32 Milliarden Euro beziffert. „Die Deutschen sind in Polen eingefallen und haben uns enormen Schaden zugefügt. Die Besatzung war unglaublich verbrecherisch, unglaublich grausam und hatte Auswirkungen, die in vielen Fällen bis heute anhalten“, begründete Kaczynskiseine Forderung. Die Bundesregierung lehnt jegliche Reparationsforderungen ab. Für sie ist die Frage mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag über die außenpolitischen Aspekte der deutschen Einheit abgeschlossen. – Stehen sich da nicht nur zwei unterschiedliche Rechtsauffassungen, sondern auch zwei unterschiedliche Moralauffassungen entgegen?
Recht und Moral sind zwei scheinbar ganz unterschiedliche Bereiche. Das Recht bezieht sich auf äußere Vorgänge und regelt die Beziehungen von Personen untereinander. Die Moral bezieht sich auf die ethischen Maxime und das Gewissen der einzelnen Person. Übertragen auf das Verhältnis zweier Nationen zueinander hieße das, dass ihre rechtlichen Beziehungen nichts mit ihrem jeweiligen moralischen Empfinden zu tun haben. – An den polnischen Reparationsforderungen an Deutschland – und deren Abwehr – wird klar, dass das Verhältnis von Recht und Moral viel, viel komplizierter ist.
Nach Sicht der polnischen Regierung gibt es offenbar so etwas wie ein moralisches Recht. Das Recht Polens nämlich, für die an ihm von Deutschland begangenen Kriegsverbrechen angemessene Entschädigungen zu verlangen. Die deutschen Regierungen – und zwar alle von der Gründung der Bundesrepublik an – trennen dagegen scharf zwischen Moral und Recht. Moralisch bekunden sie eine tiefe Schuld wegen dieser Verbrechen. Rechtlich dagegen fühlen sie sich nicht dazu verpflichtet, dafür auch finanziell gerade zu stehen.
Deutschland begründet das damit, dass Polen schon beim Londoner Schuldenabkommen von 1953 völkerrechtlich wirksam auf deutsche Reparationen verzichtet habe. Und zweitens habe Polen bei den sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen 1990 keine Forderungen an Deutschland erhoben. Also bestehe völkerrechtlich keinerlei Anlass für polnische Reparationsforderungen. Recht ist Recht.
Etwas anders stellt es sich dar, wenn man auf das Zustandekommen dieses Rechts blickt. Der Verzicht Polens 1953 auf Reparationen war nicht freiwillig, sondern geschah unter dem massiven Druck der damals Polen dominierenden Sowjetunion. Und 1990 bei den die deutsche Wiedervereinigung ermöglichenden Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war Polen gar nicht dabei. Und zwar keineswegs zufällig. Die Regierung Kohl hatte bewusst die Beteiligung anderer als der beiden deutschen Staaten und der vier Alliierten verhindert, damit das Zwei-plus-Vier-Abkommen nicht den Namen Friedensvertrag trüge. Der nämlich hätte völkerrechtlich zwingend die Klärung von Reparationsfragen erfordert.
Dass Recht und Moral strikt voneinander zu trennen sind, scheint demnach höchst fragwürdig. Und einen „rein rechtlichen“ Standpunkt einzunehmen, schlicht unmöglich. Wenn sich deutsche Regierungen notorisch auf das „Recht“ berufen, wenn andere finanzielle Ansprüche an sie stellen – Griechenland und Italien sind weitere Beispiele – zeigt sich meist der pure Geiz als das dahinterstehende Motiv. Was nicht heißt, dass diejenigen, die ein „moralisches Recht“ für sich reklamieren, auch auf moralisch höherer Warte ständen. Im Gegenteil. Wenn die polnische PIS-Regierung ihre Reparationsforderung dazu benutzt, zu Wahlkampfzwecken Deutschenfeindlichkeit zu schüren, beweist sie dadurch nichts anderes als ihre Unmoral.
WDR 3 Mosaik 2. September 2022