Jörg Fauser, Die Tournee. Roman aus dem Nachlass. Herausgegeben von Jan Bürger und Rainer Weiss. Diogenes. 288 Seiten. 24 Euro
Der unvollendete Roman Jörg Fausers – eine Kriminalgeschichte mit zukunftslosen Protagonisten – ermöglicht spannende Einblicke sowohl in die Arbeitsweise des früh verstorbenen Autors wie in seine ambitionierten literarischen Pläne.
Das Werk Jörg Fausers wird seit den 1990er Jahren, also kurz nach seinem Tod 1987, immer wieder neu in verschiedenen Werk- und Gesamtauflagen aufgelegt. Das verdankt sich nicht nur dem Geschäftssinn der Verlage. Darin spiegelt sich auch die Rezeptionsgeschichte dieses von Beginn an Kontroversen provozierenden Autors. Noch zu Lebzeiten genoss er den Ruf als „Asphaltliterat“ und „Underground“-Schriftsteller. Geadelt wurde er durch den arroganten Verriss des literarischen Establishments, er arbeite „mit Klischees und Versatzstücken“, mit Kunst habe das „nichts zu tun.“ (Marcel-Reich Ranicki). In den 90er Jahren wurde es etwas stiller, doch mit jedem folgendem Geburtstag wurde er neu entdeckt. Jetzt offenbart die neueste Werkausgabe bei Diogenes – darunter auch die nachgelassene „Tournee“ – die eine oder andere literarische Schwäche Fausers, die während seiner Heroisierung als Avantgarde-Literat übersehen oder verschwiegen wurde. – Behält etwa Reich-Ranicki am Ende doch ein bisschen Recht?
Dass Jörg Fausers Romanfiguren auf der Kippe stehen, wäre eine euphemistische Feststellung. Tatsächlich sind sie alle bereits im freien Sturz in den Abgrund. Eines der Alleinstellungsmerkmale des Autors Fauser ist, dass ihnen das überhaupt nicht klar ist und sie im Gegenteil meinen, jetzt gings erst richtig los und nur noch bergauf. Auch seinen letzten, als Fragment aus dem Nachlass überlieferten Roman bevölkern zerbrochene und an ihren Illusionen klebende Figuren. Gerade 200 Seiten hat Fauser bis zu seinem plötzlichen Tod geschafft. Etwa die Hälfte des geplanten Umfangs. Für die Leser aber genug um zu erkennen, dass es sich wieder um einen typischen Fauser-Großstadt-Asphalt-Krimi handeln würde wie beim „Schneemann“ oder dem „Schlangenmaul“: Scharfe Figuren-Zeichnung, präzise, lakonische Dialoge, satirisch überzeichnete Milieus.
Das Café Roma an der Maximilianstraße war wieder geheizt, schon wegen der vielen älteren Schoßhunde und ihren Herrschaften. Matt glühten die Lampen über Marmortischen und weinrotem Leder. In den Nischen arbeiteten junge Schauspielerinnen ihre nächtlichen Rollenübungen auf; reife Callgirls versteckten ihre sonntäglichen Depressionen hinter riesigen Sonnenbrillen. Es roch nach Pizza, Parfums und Zigarren.
In diesem Café verhandelt der bankrotte Möchte-Gern-Galerist Guido Franck mit einem Hochstapler namens Ersthazy ein Drogengeschäft, von dem jeder außer er selbst weiß, dass es tödlich für ihn enden wird. Neben Guido Franck zappeln auch die anderen Protagonisten der „Tournee“ im Netz eines höchst undurchsichtigen Mannes namens Charles Kuhn, der aussieht wie ein Filmstar, sich benimmt wie ein Ganove und sich ausdrückt wie ein Philosoph. Charles Kuhns kriminelle Geschäfte bilden den roten Faden der Geschichte und verbinden die übrigen Figuren miteinander. Später, zum Showdown, wird noch Harry Lipschitz hinzukommen, ein gealterter und gesundheitlich angeschlagener Stasi-Agent außer Dienst:
Er, das ausrangierte alte Eisen, ist die moralische Kraft, die die anderen stellt.
So jedenfalls sahen es Jörg Fausers Roman-Planungen und Entwürfe vor, die dem Text nachgestellt sind. Aus diesen Skizzen geht auch hervor, dass Fauser mit der „Tournee“ mehr vorhatte als einen weiteren Großstadtkrimi zu schreiben. Ihm schwebte ein „großes Format“ vor, ein an John Dos Passos „Manhattan Transfer“ angelehntes Deutschland-Kaleidoskop. Als weitere Vorbilder nennt er Hans Fallada und Joseph Roth. – Das vorliegende Fragment lässt naturgemäß keinen endgültigen Schluss darauf zu, ob dieses Vorhaben gelungen wäre. Doch zweifellos hätte der Roman es schwer gehabt, tatsächlich ein „großer Roman“ zu werden: Zu oft bleibt Jörg Fauser darin Reporter, zu sehr ist sein Schreiben der Kolportage, der Satire und allzugängigen Klischees verhaftet. Seine Kleingangster und Filmproduzenten sind so, wie man sich halt Kleingangster und Filmproduzenten vorstellt, seine Münchner Schickeria kennt man aus der Boulevard-Presse. – Es scheint sich mithin der die Rezeptionsgeschichte Jörg Fausers begleitenden Verdacht zu bestätigen, dass es doch nicht so weit her ist mit der Roman-Kunst des Autors. Die zahlreichen Renaissancen, die das Werk des 1987 Verstorbenen erlebte, stilisierten ihn zu einem Avantgarde-Literaten, zum ersten deutschen Schriftsteller, der „schrieb wie Raymond Chandler.“ – Das „Tournee“-Fragment lässt Fauser deutlich eine Nummer kleiner als Chandler erscheinen. Vieles, vor allem die Zeichnung seiner Figuren bleibt zu sehr an der Oberfläche. Mit einer Ausnahme: In den Ex-Agenten Harry Lipschitz hat er sein ganzes Herzblut gesteckt und ihn zu einer lebensprallen Figur gemacht, über die der Leser gerne noch sehr viel mehr erfahren würde. – Harry hat gerade einen schweren Herzinfarkt überstanden. Die bisherigen täglichen zwei Päckchen Zigaretten sind ab sofort tabu. Mit der traumwandlerischen Konsequenz des Süchtigen steigt Harry aufs Pfeifenrauchen um.
Die Pfeife schmeckte gar nicht mal so schlecht, obwohl es natürlich eine Zumutung für die feine Zunge war. Bekam er eben Zungenkrebs statt Herzinfarkt. Aber Pfeifenrauchen hatte einen Vorteil, man konnte das Ding den ganzen Tag dampfen lassen, und es fiel immer noch in die Rubrik ‚Gesünder leben‘.
WDR3 Kultur am Mittag 19. August 2022