Nachdem sich vergangenen Mittwoch der neue Landtag von NRW konstituierte, kommt er heute zu seiner ersten planmäßigen Sitzung zusammen. Die Wählerinnen und Wähler werden sich in der sozialen Zusammensetzung seiner Mitglieder kaum wiedererkennen können. Denn im neuen Landesparlament sind – wie bisher – Akademiker völlig überrepräsentiert, Frauen und Menschen mit internationalem Hintergrund dagegen wieder unterrepräsentiert. Es ist kein großes Rätsel, warum das so ist: Weil es den männlichen Abgeordneten zumindest „nicht peinlich“ ist, wie Jörg Geerlings von der CDU meinte, dass in deren Fraktion gerade 22 Prozent Frauen sitzen.
Das vermeintlich Klügste, was dem griechischen Philosophen Platon einfiel, war die Idee von der Gelehrtenrepublik. Ein Staat sei nur dann gut zu führen, wenn die Regierung in der Hand von Philosophen liege. Jahrtausendelang galt das als der politischen Weisheit letzter Schluss. Jedenfalls als eine wünschenswerte Utopie. Bis dann ein anderer Philosoph, Immanuel Kant, dagegen einwandte, dass Philosophen an der Macht keineswegs ein Gewinn seien. Denn Macht, so Kant, verderbe unvermeidlich das fürs Regieren notwendige freie Urteil der Vernunft.
Obwohl Kant zweifellos das bessere Argument hatte, setzte sich mit der Einführung des Parlamentarismus in Deutschland Platons politisches Ideal unter der Hand durch. Bereits in der ersten Nationalversammlung von 1848 waren vier von fünf Abgeordneten Akademiker. Das trug dieser ersten demokratisch gewählten Volksvertretung den Namen „Professoren-Parlament“ ein. – Dabei ist es im Laufe der deutschen Parlamentsgeschichte mehr oder weniger geblieben: In allen Reichstags-, Bundestags- und Landtagsparlamenten überwog der Anteil der akademisch ausgebildeten und meist männlichen Parlamentarier den der praktisch arbeitenden Menschen bei Weitem.
Entsprechend setzt sich jetzt auch der neue Landtag in NRW zusammen: Obwohl nur knapp 17 Prozent aller Berufstägigen in NRW studiert haben, sind 80 Prozent der Abgeordneten Akademiker. Davon die meisten – nein, nicht Philosophen, sondern Juristen. Was für die Machtausübung im Übrigen ja auch viel zweckmäßiger ist. Ebenso naheliegend scheint zu sein, dass die Parteien – mit Ausnahme von Grünen und SPD – überwiegend akademisch gebildete Männer ins Parlament schicken.Der Frauenanteil beträgt vor allem dank der CDU gerade 33,8 Prozent. Und der Anteil von Menschen mit internationalem Hintergrund beläuft sich auf beschämende 10 Prozent, obwohl sie ein Drittel der NRW-Gesamtbevölkerung ausmachen.
Jede Fußallmannschaft in unserem Land – ob männlich oder weiblich – repräsentiert die soziale Zusammensetzung der Gesellschaft mehr als das Landesparlament. Was daran liegt, dass es ein zwar demokratischer, aber eben auch ein Machtapparat ist. Und der bildet nicht die realen Proportionen der Gesellschaft ab, sondern ihre nach wie vor patriarchische Struktur. Es leuchtet ein, dass in einer solchen Struktur überwiegend akademisch ausgebildete Männer sich zur Machtausübung berufen fühlen und sich wählen lassen. Aber: Warum tun die Wählerinnen und Wähler ihnen den Gefallen?
Die Antwort ist einfach: Sie wählen sie überhaupt nicht. Jedenfalls immer weniger. Mit rund 55 Prozent schlug die Wahlbeteiligung bei der letzten Landtagswahl in NRW auf einem historischen Tiefstand seit 1949 auf. Und: Die meisten Menschen mit internationalem Hintergrund haben gar kein Wahlrecht. Am Wichtigsten aber: Nicht die Armen wählen, sondern die Reichen. Im Kölner Millionärsviertel Hahnwald wählten 91 Prozent das neue Parlament. In „Sozialen Brennpunkten“ war es viel weniger als Hälfte, 44 Prozent. Warum? Warum sollten die Frauen und Männer dort glauben, dass ihre Interessen durch einen Haufen sehr gut verdienender Juristen vertreten würden? Ist es nicht eher so, wie Kant vermutete, dass die eher ihre eigenen Interessen vertreten?
WDR 3 Mosaik 7. Juni 2022