Tanguy Viel, Das Mädchen, das man ruft. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt Henkel.Wagenbach-Verlag. 134 Seiten. 20 Euro
Die 20-jährige Laura sucht eine Wohnung. Da ist es gut, dass ihr Vater den Bürgermeister kennt. – In einer beklemmenden Geschichte erzählt Tanguy Viel von einem Missbrauchsfall in der bretonischen Provinz.
„Herr Bürgermeister, ich wollte Sie um einen kleinen Gefallen bitten, es geht um meine Tochter, sie ist hierher zurückgezogen und…“ „Ja selbstverständlich, sagen Sie ruhig.“
So oder so ähnlich beginnen viele der Geschichten, die später ein Staatsanwalt mit dem Etikett „Missbräuchliche Ausnutzung“ versieht und so schnell wie möglich vom Schreibtisch haben will, – weil ein Mächtiger im Spiel ist. – Von einem solchen Fall erzählt Tanguy Viel in seinem neuen Roman. Es ist die Geschichte der 20-jährigen Laura und ihres Vaters, des alternden Boxers Max. Nachdem sie ein paar Jahren bei ihrer von Max geschiedenen Mutter lebte, kehrt Laura zu ihm in seine bretonische Heimatstadt zurück. Er arbeitet dort als Chauffeur des Bürgermeisters und so liegt es nahe, dass er diesen darum bittet, Laura bei der Wohnungssuche behilflich zu sein. Doch schon ihren ersten Besuch in seinem Büro benutzt der Bürgermeister zu einer Besitzergreifung.
Da spürte sie, so wie sich in der Tektonik irgendwann die Spannung entlädt, wie seine Hand sich auf ihre legte und er zugleich sagte: „Ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen.“
Doch das Einzige, was der Bürgermeister tut, ist, Laura einen Job als Animierdame im Kasino eines Kumpels zu besorgen. Zu dem Job gehört ein Einzimmerappartement. Und dort besucht er Laura von nun an jeden Tag für eine Viertelstunde, während unten hinterm Steuer seiner schwarzen Limousine ihr nichtsahnender Vater Max auf ihn wartet. – Tanguy Viel erzählt diese Geschichte weitgehend rückblickend und aus der Perspektive Lauras, die schließlich Anzeige erstattete. Vor den beiden sie vernehmenden Polizisten muss sie sich rechtfertigen, warum sie dieses demütigende Verhältnis monatelang ohne die geringste Gegenleistung des Bürgermeisters, aber auch ohne jeden Protest ertrug.
„Er hat nichts von Ihnen verlangt?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Also haben Sie es aus freiem Willen getan?“ „Nein, ich sage ja, ich habe es tun müssen, das heißt nicht, dass es aus freiem Willen war.“ Die beiden Polizisten wurden allmählich ungeduldig. „Und sie haben nicht gleich daran gedacht, Anzeige zu erstatten?“ „Daran gedacht ja, vielleicht. An dem Tag habe ich, wenn man das so sagen kann, eher Anzeige gegen mich selbst erstattet.“
Tanguy Viel tut gut daran, sich als Mann nicht anzumaßen, das Seelenleben des unfreiwillig-freiwilligen Missbrauchs-Opfers Laura tiefer auszuloten. Was er freilich auslotet, ist das, worauf er sich als Autor zahlreicher Krimis aus der französischen Provinz hervorragend versteht: Wie hierarchische Männergesellschaften reagieren, wenn sie sich durch eine Frau angegriffen fühlen. In einer aktionsreichen, stilistisch brillanten und von Hinrich Schidt-Henkel ebenso brillant übersetzten, am Ende tragischen Geschichte erzählt Tanguy Viel vom Funktionieren der Macht. – Bei ihrer Vernehmung ist Laura am Ende der Schilderung ihrer Geschichte angekommen. Einer der beiden Polizisten hat sie zu Protokoll genommen und in den Drucker eingegeben.
„Aber Macht“, sagte sie, „ist kein Verbrechen, oder?“ „Kommt darauf an“, sagte der Polizist, „das ist nicht auszuschließen“, während er zusah, wie die Blätter aus dem Drucker kamen.
WDR 5 Bücher 21. Mai 2022