Jakub Malecki, Saturnin. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidall. Secession-Verlag. 28.02.2022. 268 Seiten. 25 Euro.
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Die Vergangenheit, vor allem der Zweite Weltkrieg, scheint für die polnischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen ein immer noch hoch brisantes Thema zu sein. Der derzeit in Deutschland bekannteste polnische Autor etwa, Szczepan Twardoch, hat in seinen Romanen noch nie die Vergangenheit vor und während des Krieges verlassen. Auch für einen anderen, jüngeren Autor, Jakub Malecki, 1982 geboren, ist der Zweite Weltkrieg, der im September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begann, immer noch ein wichtiges Thema. Das bindet er in seinem Roman „Saturnin“ allerdings erzählerisch geschickt an die polnische Gegenwart an. Die Geschichte beginnt mit dem traurigen Icherzähler Saturnin, einem übergewichtigen Handelsvertreter, der in Warschau lebt. Ein Anruf seiner Mutter reißt ihn aus seinem Alltag und führt ihn über das Schicksal seines Großvaters zurück in den September 1939.
Der Großvater war schon immer ein seltsamer Mann. Gesprochen hat er kaum, dafür von morgens bis abends gearbeitet, auf dem Feld und im Stall. Und dann hatte er die merkwürdige Angewohnheit, stundenlang an einer Mulde am Dorfrand zu stehen und darauf zu starren, obwohl es da überhaupt nichts zu sehen gibt. Er aber behauptet, dort wäre früher ein Teich gewesen. – Saturnin, der Erzähler, ist nie hinter das sich dort verbergende Geheimnis gekommen. Er hat jetzt auch andere Probleme, lebt nicht mehr bei Mutter und Großvater auf dem Dorf, sondern arbeitet als Handelsvertreter in Warschau. Außerdem arbeitet er an seinem Übergewicht, jedenfalls manchmal. Dann ruft ihn seine Mutter an: Großvater ist verschwunden. Saturnin setzt sich ins Auto und fährt zu ihr und mit ihr zusammen schließlich zu einer Frau in einem anderen, weit entfernten Dorf. Sie hatte angerufen und behauptet, Großvater sei der Freund ihres verstorbenen Schwiegervaters gewesen und sie wisse, wo er jetzt sei. Mit dem Kugelschreiber malt sie einen Punkt auf die Landkarte, nahe am Fluss Bzura.
„Aber warum dort?“ fragt Mutter. „Was ist da an der Bzura?“ Die Gastgeberin heftet einen Moment lang ihren Blick auf die Mutter. „Also… Ihr Vater hat behauptet, er wäre dort gestorben.“
Im Roman Jakub Maleckis stoßen wir auf lauter Rätsel. Das beginnt schon damit, dass bevor die eigentliche Erzählung beginnt, eine Tote zum Leser spricht.
Ich weiß nicht viel – nur dass mein Bruder eine Schlange ist, dass ich selbst nicht mehr lebe und ein paar andere Dinge. Alles vermischt sich, vielleicht muss das so sein. Mein Name ist Irka, den Nachnamen erinnere ich nicht.
In der Tat vermischen sich hier die Dinge. Für den Roman heißt das zunächst: Die Perspektiven. Zuerst erzählt Saturnin wie er mit seiner Mutter nach dem verschwundenen Großvater sucht. Dann erzählt die Mutter in Briefen an eine Freundin, wie sie Saturnins Vater kennenlernte, heiratete, wie Saturnin geboren wurde und der Vater in eine so unheilbare Depression verfiel, dass sie sich von ihm trennen musste. Dann erzählt wieder Saturnin, wie er den noch lebenden Großvater aus dem Uferschlamm der Bzura zieht. Und von da an erzählt der Großvater selbst, Tadeusz Markiewicz: Wie er nach dem Überfall der Deutschen im September 1939 als Soldat eingezogen und ein paar Tage später, am Ufer der Bzura, von einer deutschen Kugel getroffen wurde. Tödlich getroffen wurde, wie er zunächst glaubt – und dann sehnt er sich sein Leben lang danach, er wäre wirklich dort gestorben.
Etwas ist nicht, wie es sein soll. Dort an der Bzura ist etwas geschehen, das nicht hätte geschehen dürfen, denn er hat überlebt und damit alle anderen Möglichkeiten zerstört. In diesen anderen Möglichkeiten wurde Irka alt, hatte drei Kinder, liebte dumme Streiche und las Liebesromane und ihn gab es nicht in diesem Leben, er hatte seines im Schlamm am Ufer der Bzura beendet, – so hätte es sein müssen, das spürt er.
Mit diesem ergreifenden Gedankenspiel löst Tadeusz Markiewicz, der Großvater, alle Rätsel des Romans: Irka war seine Lieblingsschwester. Am Teich vor dem Dorf gaben sie sich das Versprechen, sich dort irgendwie gegenseitig ein Zeichen zu geben, wenn sie den Krieg überlebten. Als er schwer verwundet zurückkehrte, hatten die Deutschen das Dorf und auch den Teich zerstört – und Irka getötet.
Er schreit, flüstert, stöhnt, fleht, doch ich bin nicht mehr in seinem Kopf, ich bin nirgendwo, da ist nur er, auf das gefrorene Wasser starrend, horchend, auf ein Zeichen wartend, noch nicht wissend, dass es kein Zeichen gibt.
Die häufigen Perspektivwechsel und Zeitsprünge in diesem glänzenden Roman sind keine ästhetischen Spielereien, sondern geben der Erzählung historische Tiefe und schaffen gleichzeitig psychologisch überzeugende Innenräume. Und nicht zuletzt die funkelnde, bildreiche, von Renate Schmidgall schöpferisch ins Deutsche gesetzte Sprache machen „Saturnin“ zu einem überwältigenden Leseereignis. – Mehr Lesestoff von Jakub Malecki!
WDR 3 Kultur am Mittag, 19.April 2022