Im Dezember 2005 initiierte die UN-Generalversammlung einen „Tag der menschlichen Solidarität“. Unter dem Kapitel „Konkrete Initiativen im Kampf gegen die Armut” wurden fünf Handlungen beschlossen, eben auch die Einrichtung dieses 20. Dezember als „Tag der menschlichen Solidarität“. Außerhalb der UN-Organisation hat dieser Tag allerdings eine geringe Popularität und die UN selbst ist auch kaum aktiv. Ihre offizielle Website ist seit 2018 ohne Aktualisierungen, ihre facebook-Seite auf dem Stand von 2019. Trotz einer Corona-Pandemie, die zur internationalen Solidarität Anlass genug böte. In der UN scheint es niemanden mehr zu geben, der sich um diesen Tag kümmert.
Wer ab und zu ein Auge auf Bettler wirft, stellt fest, dass die wenigen, die ihnen etwas in den Pappbecher werfen, meist selbst zu den Armen gehören. Bezogen auf die Internationale Solidarität erzählt Angelika Nußberger, Richterin am Internationalen Gerichtshof in Straßburg, dazu folgende Geschichte: In den 60er Jahren schickte ausgerechnet Äthiopien, eines der allerärmsten Länder der Welt, eine, wenn auch sehr kleine Spende an Erdbebenopfer im fernen Chile. Man wollte damit eine noch länger zurückliegende Unterstützung vergelten.
Obwohl die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Weltgesellschaft und – auch mit Hilfe der UN – zu einer Art Weltrepublik zusammenwuchs, in der gegenseitige Hilfe selbstverständliche Pflicht wäre: Akte echter, d.h. uneigennütziger Solidarität zwischen den Staaten sind eher die Ausnahme als die Regel geblieben. Man erinnere sich nur an das Verhalten Deutschlands gegenüber Griechenland in der Finanzkrise 2008.
„Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“, heißt es in Friedrich Schillers Ode an die Brüderlichkeit. Die Brüderlichkeit – das Synonym für Solidarität – hat es allerdings nie leicht gehabt. Sie fehlte – dem anders lautenden Glauben an die eherne Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum Trotz – bereits in der Menschenrechtserklärung von 1789. Von Anfang an stellte die Menschenrechtsidee die Selbstverwirklichung und die Rechte des Individuums in den Mittelpunkt, nicht aber seine Verpflichtung, sich für das Wohlergehen der anderen einzusetzen.
So sucht man sowohl im deutschen Grundgesetz wie in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 vergeblich die Worte „Brüderlichkeit“ und „Solidarität“. Wohl hingegen sind diese Begriffe in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert, – jedoch nur, weil in deren Formulierung nicht bloß westliche, sondern auch außereuropäische Menschenrechtstraditionen einflossen. Dort werden das Element der Brüderlichkeit und die Pflicht gegenüber dem Nachbarn viel stärker gewichtet als die Einforderung von individuellen Rechten.
Es gibt sie also, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in deren ersten Artikel die Menschen aufgefordert werden, „einander im Geist der Brüderlichkeit“ zu begegnen. Und es gibt die UN, die die Verwirklichung dieses Anspruchs gegenüber ihren 193 Mitgliedsstaaten durchzusetzen hat. Dass sie das mit der Ausrufung immer neuer „Tage“ – „Welternährungstag“, „Tag der Internationalen Beseitigung der Armut“ und seit 2005 „Tag der Internationalen Solidarität“ tut, zeugt eigentlich von nichts anderem als von ihrer Ohnmacht. Es sind im Grunde nichts mehr als Hilferufe.
Dass sie von den Staaten gehört werden, ist unwahrscheinlich. Die sind im Augenblick mehr mit Kriegsvorbereitungen als mit Brüderlichkeit beschäftigt. Also ist die Menschenrechtsidee der Solidarität darauf angewiesen, dass, – so wie in den 1960er Jahren Äthiopien den chilenischen Erdbebenopfern half – weiterhin die Schwachen den Schwachen, die Armen den Armen helfen. Die Brüderlichkeit in der Welt liegt in den Händen von ein paar freiwilligen Helfern der Nicht-Regierungsorganisationen.
WDR 3 Mosaik 20. Dezember 2021