Die Bundeskanzlerin wurde mit einem „Großen Zapfenstreich“ aus ihrem Amt verabschiedet. Das ist ein aus dem frühen 19. Jahrhundert stammendes preußisches Militär-Zeremoniell mit Stechstrich, Fackeln und komplizierten Exerziergriffen am Gewehr. Als der Schlussstrich unter eine so nüchterne Kanzlerschaft wie der von Angela Merkel wirkt es reichlich pompös und auch unzeitgemäß angesichts der betont antimilitaristischen Tradition der Bundesrepublik.
Am 1. Juli 1974 besteigt Bundespräsident Gustav Heinemann mit seiner Gattin in Bonn den Ausflugsdampfer „Drachenfels“. Mit eingeladen zu dieser sommerlichen Schiffstour den Rhein hinauf nach Linz hat er außer seinem Amtsnachfolger die gesamte politische Prominenz der damaligen Bonner Republik. An Bord gibt es Schnittchen und Sekt, eine Big Band spielt feierlich „Il Silenzio“ von Nini Rosso. Denn es ist der letzte Amtstag des scheidenden Präsidenten. Um 24 Uhr wird Walter Scheel sein Nachfolger sein. Aber da sitzt Heinemann schon längst im Auto zurück nach Bonn.
Gustav Heinemann ist der einzige Politiker der Bundesrepublik geblieben, der auf das ihnen zustehende militärische Ritual des Großen Zapfenstreichs verzichtete und stattdessen zu einer Art Betriebsausflug lud. Wohl, weil ihm alles Militärische zuwider war, vor allem dann, wenn seine Rituale ans Lächerliche grenzen: Der Name „Zapfenstreich“ rührt daher, dass der Spieß in den Soldatenlagern des 16. Jahrhunderts abends zur „letzten Runde“ trommelte, indem er auf den Boden eines Bierfasses schlug bzw. „strich“. Man muss schon ziemlich schräg drauf sein – oder eben ein Militär – um den banalen Ruf „kein Bier mehr“ in ein gravitätisch-weihevolles Verabschiedungs-Ritual umzumodeln.
Die übrigen Präsidenten, Kanzler und Verteidigungsminister haben sich nicht daran gestoßen. Sie haben es im Gegenteil mit würdevoller Gefasstheit nicht nur über sich ergehen lassen, sondern es oft sogar genossen. Selbst diejenigen standen beim Zapfenstreich stramm, die sich in ihrem Amt nicht gerade mit Ruhm bekleckerten wie Christian Wulff und Theodor zu Guttenberg. Dem scheidenden Bundeskanzler Gerhard Schröder traten sogar Tränen in die Augen, als er den von ihm bestellten Sinatra-Titel „My Way“ hörte, so gerührt war er – aber wohl eher von sich selbst als vom Stechschritt und den Exerziergriffen des Wachbatailons.
So etwas konnte Angela Merkel natürlich nicht passieren. Ist ihr auch nicht passiert. Weitgehend mit Pokerface nahm sie das sowohl aufs Ergriffensein hin angelegte Spektakel hin. Nur beim Knef-Schlager „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ soll ihr, so sehr aufmerksame Beobachter, ein kleines Lächeln entrutscht sein. Ansonsten aber funktionierte das mit Marschmusik inszenierte Fackel-Rührstück „Großer Zapfenstreich“: Millionen Zuschauer verfolgten es live am Fernseher. Und wie ergriffen sie davon waren, zeigte sich daran, dass sie sich über die „Pietätlosigkeit“ der ZDF-Moderatorin beschwerten, weil die versehentlich das Mikro für eine Regieanweisungen offengelassen hatte.
Bis in die 1980er Jahren galten alte Männer, die Marschmusik hörten als ebenso hoffnungslos verkalkt wie ihre Frauen, die vorm Fernsehen stundenlang gebannt die Zeremonien der britischen oder niederländischen Royals verfolgten. Biologisch hat sich dieses Problem immer noch nicht gelöst. Denn offenbar lassen sich Miltärsentimentalität und Monarchenverehrung nicht so ganz aus den republikanischen Klamotten bürsten. Vielleicht liegt das daran, dass es sowohl in der Verfassung wie in den Sitten der Bundesrepublik eine ganze Reihe von Wurmfortsätzen, Überresten vergangener, vordemokratischer und militaristischer Staatsverfassungen gibt, die zur Orientierung einladen. Angefangen von dem mit höfischem Zeremoniell umgebenen Präsidentenamt über die öffentlichen Gelöbnisse von Bundeswehrrekruten bis eben hin zum Zapfenstreich.
Gustav Heinemann, der als erster und einziger Präsident auf den Zapfenstreich verzichtete, empfand sich als Bürgerpräsident. Bei seinem Amtsantritt am 1. Juli 1969 sagte er: „Überall müssen Autorität und Tradition sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung gefallen lassen.“ Diesen Anspruch hat die scheidende Kanzlerin zumindest durch den völlig unprätentiösen Habitus ihrer Amtsführung eingelöst. Und ihren feinen Sinn für Ironie. Den hat sie auch bei ihrem Zapfenstreich unter Beweis gestellt: Wer eine Militärkapelle auffordert, Nina Hagens DDR-Punksong „Du hast den Farbfilm vergessen“ zu spielen, zeigt, dass er das ganze Brimborium nicht wirklich ernst nimmt.
DLF Kultur heute 4. Dezember 2021