Ian McGuire, Der Abstinent

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Ian McGuire, Der Abstinent. Roman. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. dtv 2021. 334 Seiten. 23 Euro

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Ian McGuires Geschichte spielt in der Vergangenheit und hat eine historische Tatsache zum Anlass: Die Hinrichtung von drei irischen Terroristen im Jahr 1867 in Manchester. Alles andere aber an der daran anknüpfenden Fiktion ist so gegenwärtig wie ein Roman nur gegenwärtig sein kann. Dazu gehört seine realistische und überaus präzise Erzählweise, die sich nie irgendwelche historisierenden Schnörkel erlaubt. Sein atemberaubendes, immer im Präsens bleibendes Tempo. Vor allem aber die Aktualität seiner Themen. Es geht um nationalistische und rassistische Ressentiments. Es geht um Terrorismus und seine Bekämpfung. Und, es geht um die existentielle Sinnlosigkeit, in diejenigen geraten, die in diesen „war on terror“ verwickelt sind.

„Den Namen!“, schnauzt Doyle. „Ich frage jetzt nur noch ein einziges Mal, dann schieße ich Sie tot, das schwöre ich.“ – O’Connor spürt die heiße Mündung an der Stirn. Alles, was wir erleben, denkt er, ist nur ein einziger Augenblick, nur dieses eine Jetzt; die Finsternis entlässt uns und umfängt uns wieder, und wenn nicht nackte, jämmerliche Angst uns weiterleben lässt, was dann?

O’Connor ist der Polizist, der in Manchester einen Anschlag der irischen Geheimorganisation der Fenians aufdecken soll, mit dem sie die Hinrichtung dreier ihrer Kameraden rächen will. O’Connor ist selbst Ire. Er hat sich nach dem tragischen Verlust seiner Frau und einem darauffolgenden Alkohol-Exzess von Dublin nach Manchester versetzen lassen. Jetzt ist er trocken, doch dem nationalistischen, Iren-feindlichen Hohn seiner Kollegen ausgesetzt. Ein todtrauriger Einzelgänger, der sich durch den Einsatz irischer Landsleute als Spitzel bei den Fenians immer tiefer in einen Strudel von Schuld und Selbstverachtung hinein bewegt. Bis Stephen Doyle auftaucht, ein von den Fenians beauftragter Killer, der ihren Racheakt professionell ins Werk setzen soll. Auch Doyle ist Ire, aber in den USA aufgewachsen und durch seine Erlebnisse im Bürgerkrieg zu einer ähnlich tragischen, verlorenen Figur geworden wie sein Verfolger O’Connor.

Fredericksburg änderte alles. In dieser Schlacht begriff er, dass der Krieg auf eine Weise wahrer und realer war als alles andere. Während er im Kugelhagel Marye’s Hügel stürmte und Männer links und rechts von ihm tot umfielen – manche stumm wie betäubtes Vieh, andere mit lautem Wehgeheul -, verlor er jedes Gefühl von sich selbst als einzigartigem, besonderem Geschöpf. Er war zugleich überall und nirgends: in seinem Körper, aber auch daneben; in den Leichen der Gefallenen und in den Schreien und Flüchen der Lebendigen. Als der Rauch sich legte und die Schlacht vorüber war, verspürte er darüber eher Trauer als Erleichterung.

McGuires Story orientiert sich an klassischen Duell-Konstellationen: Der Terrorist Doyle jagt den Polizisten O’Connor. O’Connor wiederum jagt nach einem Alkohol-Rückfall und einer ebenso demütigenden Suspendierung vom Dienst Doyle. Ausgerechnet im amerikanischen Harrisburg kommt es zum Show-Down. – Ein Thriller zwar, der in der Vergangenheit spielt. Aber kein Roman der trivialen Sorte, der Geschichte als Kulisse und Kostümvorlage missbraucht. Obwohl es der Autor auf beeindruckende Weise versteht, die brodelnde Industriestadt Manchester des 19. Jahrhunderts mit all ihren Gerüchen und Geräuschen so sinnlich erlebbar darzustellen, dass der Leser manchmal meint, er hetze selbst durch ihre kloakigen Gassen. Doch der Fokus McGuires liegt eindeutig auf der psychologischen Ebene seiner Protagonisten und die Themen seines Romans können deshalb jenseits der historischen Situation zeitlose Relevanz beanspruchen.

WDR 3 Kultur am Mittag 26. Oktober 2021