Olivier Rolin, Port Sudan. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind. 144 Seiten. 20 Euro.
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In seiner Studie über den „Liebesverrat“ in der Literatur schreibt der Germanist Peter von Matt, dass es in der Literatur nur drei Themen gebe: Hochzeit, Mord und Wahnsinn, – wobei man statt Hochzeit auch Liebe, statt Mord Tod und statt Wahnsinn auch Selbstmord sagen kann. Dem französischen Schriftsteller Olivier Rolin gelingt es in seinem Roman „Port Sudan“ eben diese drei Themen zu einer eindrücklichen Geschichte zu verflechten. Der Ich-Erzähler, der seit vielen Jahren eine halbkriminelle Existenz im korrupten Hafenmilieu der afrikanischen Stadt Port Sudan führt, erhält eines Tages die Nachricht vom Tod eines Freundes. Mit ihm verbindet ihn eine gemeinsame Vergangenheit als radikaler linker Aktivist. Nach dem Scheitern dieses revolutionären Experiments – eine autobiografische Anspielung auf die maoistische Vergangenheit des Autors – entschloss sich der Freund dazu, Schriftsteller zu werden, der Ich-Erzähler wurde Seemann und landet 25 Jahre später als bestechlicher Hafenmeister in Port Sudan. Jetzt kehrt er nach Paris zurück, um das Leben des Freundes zu rekonstruieren. Er recherchiert und erfährt, dass der in den beiden letzten Jahren eine leidenschaftliche, aber zunehmend unglückliche Beziehung zu einer viel jüngeren Frau hatte.
Sie waren mit ihrem unterschiedlichen Alter wie die beiden Ränder einer Wunde, die statt zu vernarben, um eine vereinte Hautfläche zu bilden, weiter aufgeplatzt war.
Schließlich verließ ihn die Frau, er verwahrloste, verfiel psychisch, Alkohol und Tabletten brachten ihn dem Wahnsinn nahe und in eine psychiatrische Anstalt. Am Schluss erschießt er sich. – Im Verlauf der „Rekonstruktion“ dieses letzten Lebensabschnitts seines Freundes versetzt sich der Erzähler immer mehr in dessen Liebesgeschichte hinein, identifiziert sich mit dem anderen, spricht von dessen Geliebten so, als wäre es seine eigene gewesen. So gerät er am Ende in den gleichen Zustand des Verlassenseins, oder, wie er es nennt, des Verratenseins.
Selbst der Tod von Freunden und Verwandten zerstört einen nicht so sehr wie der Verrat. Der Tod lässt den innersten Kern des Lebens unversehrt, wo die Gewissheit, man selbst zu sein, ihren Ursprung hat. Der Verrat hingegen verschont nichts, nicht einmal die Vergangenheit, deren Bedeutung er völlig umkehrt und vergiftet: Das Restaurant, in dem man zum ersten Mal gegessen, sich verwundert und ungläubig entdeckt hat, – nun muss man einen Bogen um dieses Restaurant machen wie um einen verfluchten Ort.
Im Unterschied zum Freund überlebt der Erzähler das existentielle Stellvertreter-Liebesabenteuer zwar physisch. Doch seine Rückkehr in das kriminelle Milieu Port Sudans ist für ihn eine Rückkehr in die Hölle. Und damit auch eine Art Selbstmord. Und hier schließt sich der Kreis von Liebe und Tod der Liebe durch Verrat. – Man liest das Buch mit angehaltenem Atem und überliest so gerne seine erzählerische Schwäche: Die Geschichte ist ein wenig konstruiert, eher eine Art Parabel über das Verlassenwerden in der Liebe. Aber da dies ein genuin literarischer der Stoff ist und Rolin über eine prägnante, plastische Sprache verfügt, gewährt sein „Port Sudan“ einen intensiven und nachhaltigen Lesegenuss.
WDR 5 Bücher 16. Oktober 2021