Natalia Ginzburg. Die Stimmen des Abends. Aus dem Italienischen von Alice Vollenweider. Wagenbach. 144 Seiten. 18, – €
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In Mussolinis Italien, im Schatten der Fabriken von Fiat und Olivetti, begegneten sich in den dreißiger Jahren in Turin ein paar gebildete junge Leute. Sie gründeten Zeitschriften und Verlage, schrieben kritische Artikel, nahmen Verbannung und Gefängnis auf sich und fühlten sich als Avantgarde. Und das waren sie: Aus dem Kreis um Cesare Pavese, Leone und Natalia Ginzburg und dem Verlag Einaudi kam jener Geist, der nach 1945 das Klima intellektueller Freiheit in Italien wesentlich geprägt hat. Diesen Geist atmet auch noch der 1961 zum ersten Mal erschienene Roman Natalia Ginzburgs: Fern schmiegsamer literarischer Moden, ohne einfühlende Psychologisierung, fast brutal sich nur auf das Handeln ihrer Figuren konzentrierend, porträtiert sie hier eine italienische Nachkriegsgeneration, deren Gefühle verstummt zu sein scheinen.
Natalia Ginzburg hat zeitlebens nie ein Aufheben von sich gemacht und nur wenig Persönliches preisgegeben. So hält es auch die Erzählerin von „Die Stimmen des Abends“. Es hat aber natürlich einen kompositorischen Grund, warum Elsa erst nach der Hälfte des Romans beginnt, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Zuerst lässt sie ihre Mutter sprechen, mit der sie, ihr Vater und eine Tante in einem Dorf wohnt. In ermüdender Monotonie gibt die Mutter detaillierte Auskunft über ihren jeweiligen Gesundheitszustand und geht immer wieder die möglichen Heiratskandidaten im Dorf durch. Denn Elsa, 27 Jahre alt, ist unverheiratet. Offenbar aber hat sie ein Geheimnis.
Ich gehe unter dem einen oder anderen Vorwand ein- bis zweimal in der Woche in die Stadt: Ich hole für Tante Ottavia neue Bücher in der Bibliothek „Selecta“; ich kaufe für meine Mutter Strickgarn oder für meinen Vater eine spezielle Marke englischen Pfeifentabaks. Ich nehme gewöhnlich den Autobus, der um halb eins vom Dorfplatz wegfährt. Der letzte Autobus fährt um zehn Uhr abends.
Was sie in der Zwischenzeit in der Stadt macht, das erzählt sie nicht. Noch nicht. Zuerst erzählt sie die Familiengeschichte der De Francisis, der Besitzer der örtlichen Textilfabrik. Fünf Kinder haben sie, Gemmina, Vincenzino, Mario, Raffaella und Tommasino. Die Geschichte aller fünf Geschwister erzählt Elsa, berichtet davon, wen sie nach dem Krieg, in den 50er Jahren also, geheiratet haben, erzählt von ihren Ehepartnern und – Partnerinnen und wie und warum alle Ehen scheiterten. Und dann erst beginnt sie wieder von sich selbst zu sprechen und offenbart, dass es Tommasino ist, das jüngste der Francisi-Kinder, den sie heimlich in der Stadt in einer von ihm gemieteten Wohnung trifft. Doch auch auf dieser Beziehung liegt kein Segen, denn Tommasino ist ein tief unglücklicher und beziehungsunfähiger Mensch.
Er sagt manchmal zu mir: „Du weißt, dass ich dich nicht heirate.“ Ich lache und sage: „Ich weiß es.“ Er sagt: „Ich habe keine Lust zu heiraten. Wenn ich dazu Lust hätte, würde ich vielleicht dich heiraten.“ Und er sagt: „Genügt dir das?“ Ich sage: „Es muss genügen.“ Das sind die Worte unseres Dienstmädchens Antonia, wenn meine Mutter sie fragt, ob noch genug Käse da ist.
Trotzdem verloben sie sich und – selbstverständlich, das ist nach der Logik der bisherigen Erzählung eigentlich vorhersehbar, scheitert die Beziehung, noch bevor sie heiraten. – Die poetische Spannung, die diese traurige Geschichte zu einem literarischen Ereignis und damit auch zu einer großartigen Leseerfahrung macht, beruht darauf, dass hier die Leser alle Deutungsarbeit selber machen müssen. Mit keinem Wort offenbart uns die Erzählerin, was in ihr vorgeht, was sie fühlt, welche Hoffnungen sie hegt oder wie sie ihre Enttäuschungen verarbeitet. Wir müssen ihre Einsamkeit und Verlorenheit selbst rekonstruieren. Und auch in Bezug auf die vielen anderen Figuren im Roman unternimmt die Ginzburg keinerlei Anstrengung, den Lesern durch Kommentare oder Adjektive eine Haltung zu ihnen nahezulegen: Ihre Handlungen, das, was sie sagen und tun, ist das Einzige, was zählt. – Heute, 60 Jahre nach dem Erscheinen dieses Romans, wo Literatur oft genug in selbstbezogenem Geschwätz zu verschwinden droht, sehnt man sich nach einer so klaren Autorin wie Natalia Ginzburg.
WDR 5 Bücher 11.September 2021