Seit dem Jahr 2011 zählt das Statistische Bundesamt die Hundertjährigen in unserem Land. Und seitdem verkündet es von Jahr zu Jahr neue Rekordzahlen. So auch jetzt für das Jahr 2020: Da zählte es 20.465 Menschen, die 100 Jahre und älter waren. 3.523 mehr als im Jahr zuvor. Die ältesten der Alten stellen inzwischen das am stärksten wachsende Segment der Bevölkerung dar.
Im Erfolgsroman des Schweden Jonas Jonasson aus dem Jahr 2006 steigt Allan Karlssohn am Vorabend seines hundertjährigen Geburtstages aus dem Fenster seines Altenheimes, um dem Trubel der Feier zu entkommen. An der nächsten Bushaltestelle klaut er einen Koffer, in dem sich 50 Millionen Kronen Drogengeld befinden. Womit er eine turbulente Kriminalgeschichte lostritt, die er glänzend übersteht, um am Schluss in einem Ferienparadies auf Bali zur Ruhe zu kommen.
Nicht alle der über 20.000 Hundertjährigen, die das Statistische Bundesamt zählt, werden sich ein solches Abenteuer noch zutrauen. Die meisten von ihnen leben in Alten- und Pflegeheimen, sind körperlich eingeschränkt und deshalb auf fremde Hilfe angewiesen. Doch ein erstaunliches Drittel von ihnen, so die Hundertjährigenstudie der Universität Heidelberg, weist keine oder nur geringe Einbußen auf. Und trotz vieler altersbedingter Beeinträchtigungen, so die Studie weiter, sehen die meisten Hundertjährigen ihr Leben sehr positiv, das Leben hat für sie einen Sinn und sie wollen daraus noch das Beste machen.
Stehen wir, wenn das so weiter geht und wir bald alle über hundert Jahre alt werden, am Beginn einer durch den medizinisch-technischen Fortschritt ermöglichten „neuen Weltzeit“, wie es der österreichische Sozialgerontologe Leopold Rosenmayr sah? Einer Zeit, in der die kreglen Alten zu den „Zugvögeln einer Gegenkultur“ werden, einem himmelweiten Schwarm „gegen blinden Innovationszwang“? Also vor der Verwirklichung des uralten Traums vom ewigen Leben? Zumindest aber vor der Möglichkeit, ein biblisches Alter zu erreichen?
In den 1970er Jahren spekulierte der Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth in einer Fernsehsendung einmal darüber, welche Folge Unsterblichkeit oder ein sehr hohes Alter auf unser Verhalten und unsere Einstellung zum Leben haben könnte. Er glaubte, wer nicht mehr durch eine Krankheit oder das Altern sterben könnte, sondern nur noch durch einen Unfall, der würde kaum noch körperliche Risiken eingehen und am liebsten in seiner Wohnung hocken. Ironischerweise nehme in einer Welt, in der der Tod nicht mehr unausweichlich ist, die Angst vor dem Tod nicht ab, sondern zu.
Ganz abgesehen davon, dass, so weiter Hoimar von Ditfurth, in dieser Welt der Uralten der Kampf um Lebensmittel und Lebensraum unweigerlich ins Chaos und Verderben führen würde. Und gar nicht zu denken daran, wer die Renten bezahlen ersatzweise die Arbeitsplätze für die Methusaleme beschaffen und welchen Sinn dann überhaupt noch eine Einrichtung wie die Lebensversicherung haben soll. – In Anbetracht all dieser finsteren Aussichten sollten wir uns dann doch lieber mit dem Gedanken anfreunden, sterblich zu.
Es sei denn, wir blieben so fit wie Allan Karlssohn, der Held aus dem „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg“ und würden wir er, der kein Ereignis des 20. Jahrhunderts ausgelassen hat, zu einem „Träger von Zeit“. Als „Träger von Zeit“ beschrieb die Journalistin Kerstin Schweighöfer die Hundertjährigen, die sie interviewte: Menschen die ein ganzes Jahrhundert bewusst erlebten und darüber jene Weisheit erlangten, die dem Alter die Würde verleiht, die ihm zusteht.
WDR 3 Mosaik 6. August 2021