Niemand wusste bisher, was dahinter steckte, als das britische Kriegsschiff HMS vor ein paar Tagen an der russisch besetzten Halbinsel Krim so tief in russische Hoheitsgewässer eindrang, dass die Russen nervös wurden und Jagdbomber aufsteigen ließen. Jetzt wissen wir, dass die Briten Großmachtmuskeln spielen lassen und den Russen zeigen wollten das sie keine Angst vor ihnen haben. Das wissen wir dank eines Beamten aus dem britischen Verteidigungsministeriums. Er ließ nämlich die entsprechenden geheimen Unterlagen in einer Bushaltestelle liegen.
Dass es in jedem Ministerium eine gehörige Anzahl von Schafsköpfen gibt, ja, dass selbst Minister ausgemachte Trottel sein können, ist hinlänglich bekannt. Davon müssen vor allem Beobachter des bundesdeutschen Verkehrsministeriums ein trauriges Lied singen. Allerdings kann selbst dort nur annährend von einer solchen Häufung von Trotteligkeiten die Rede sein, wie sie die Ministerialbürokratien des Vereinigten Königreichs seit einiger Zeit heimsucht.
Wenn ein Beamter des britischen Verteidigungsministeriums eine 50 Seiten umfassende Akte mit Geheimdokumente einfach auf der Bank einer Bushaltestelle liegen lässt, so, dass sie, durchnässt zwar, aber noch vollständig und lesbar, am nächsten Tag von einem Passanten gefunden wird: Kann das bloße Schlamperei sein.. ? Ordnet man den Vorfall jedoch in eine lange Reihe vorauf gegangener ministerieller Trotteligkeiten im Königreich ein, könnte man auch etwas anderes dahinter zu vermuten.
Es ist gerade zehn Jahre her, dass sich Oliver Letwin, der Amtschef von Premierminister David Cameron, dabei erwischen ließ, wie er seine geheime Korrespondenz morgens während seiner Spaziergänge durch den St.Jame’s Park in öffentlichen Papierkörben entsorgte. Er liebe es eben, seine Büroarbeit morgens im Park zu erledigen, entschuldigte sich der damals zweithöchste Politiker des Königreichs. Und außerdem habe er die weggeworfenen Dokumente ja vernichtet. Was stimmt. Er zerriss sie. Allerdings so, dass die Reporter des Daily Mirror sie mühelos wieder zusammenfügen konnten.
Das wirft ein grelles Licht auf eine ganze Kette weiterer Vorgänge im Königreich: Mal vergaß Kulturminister Burnham eine Aktentasche mit vertraulichen Papieren im Zug. Mal ließ sich der oberste britische Terrorfahnder mit geheimen Dokumenten unterm Arm fotografieren. Auf den Fotos waren Informationen über laufende Anti-Terror-Überwachungen einwandfrei zu erkennen. Mal fand ein Fahrgast in einem Londoner Zug einen mit „UK Top Secret“ beschrifteten Umschlag mit Geheimdienstdokumenten über al-Qaida…
Man braucht nicht John Le Carrés berühmter Geheimagent Georges Smiley zu sein, um das System dahinter zu entdecken. Ist es nicht allzu offensichtlich, dass es sich bei all diesen scheinbaren Trotteligkeiten um ganze gezielte Whistleblower-Aktionen handelt? Da leaken hohe Ministerialbeamte auf äußerst raffinierte Weise Staatsgeheimnisse! Und zwar, ohne dass sie deswegen das bittere Schicksal solcher Whistleblower wie Julian Assange oder Edward Snowden befürchten müssten.
Nun gut, das könnte eine Verschwörungstheorie sein. Aber möglicherweise doch auch ein wertvoller Tip für Beamte, wie sie den Murks aus ihren Behörden und Ministerien öffentlich machen könnten, ohne dafür in den Knast zu kommen. Amtschef Oliver Letwin, der seine Korrespondenz in öffentlichen Papierkörben entsorgte, kam jedenfalls mit dem Versprechen davon, „es nicht noch einmal zu tun.“
WDR 3 Resonanzen 28. Juni 2021