Morgen wird es hundert Jahre her sein, dass der österreichische Dichter Hans Carl Artmann geboren wurde. Nicht, wie er lange Zeit behauptete, in Sankt Achaz im Walde, – einem Ort, der sich auf keiner Landkarte findet. Auch nicht als Sohn einer Wildente und eines Kuckucks. Sondern als Sohn des Schumachers Johann Artmann und seiner Frau Marie. Und zwar im Wiener Vorort Breitensee. Letzteres ist von Belang, weil Artmann durch seinen im Wiener Vorort- und Unterwelt-Dialekt verfassten Gedichtband „med ana schwoazzn dintn“ bekannt wurde. Dabei blieb er aber keineswegs ein Mundartdichter, sondern wurde ein großer Spracherneuerer, der mit oft surrealer Phantasie ein poetisches Werk schuf, das, so Elfriede Jelinek, zum Berühmtesten gehört, das es an moderner Lyrik im deutschen Sprachraum gibt.
Ich bin das Kind aus einer Verbindung einer Wildente und eines Kuckucks. Verbrachte meine Jugend in den dichten Laubwildnissen der Buchen und Linden. Die elterliche Atmosphäre, in der ich aufgewachsen bin, war durch nichts Intellektuelles bestimmt. Ich meine damit: Kein Gymnasium, keine Universität. Daher wohl mag meine bis heute andauernde Furcht und mit ihr verbunden der gebührende Respekt vor einer gewissen Sprache entstanden sein. Diese gewisse Sprache, die bleibt mir fremd.
Hans Carl Artmann, von seinen Freunden und später von aller Welt H.C. genannt, war 76 Jahre alt, als er 1997 den Büchner-Preis erhielt. Die „gewisse Sprache“, von der er in seiner Preisrede spricht, die Sprache der Akademiker und Gebildeten, ist ihm tatsächlich zeitlebens fremd geblieben. Statt ihrer hat er einfach eine neue erfunden. Und wurde mit ihr einer der sprachmächtigsten und phantasievollsten Poeten des 20. Jahrhunderts.
In die Tiefe seines Bauches/nach Wörteralgen taucht der Dichter./Am weißen Strand des Papieres/spreitet er sie zum Trocknen aus./Es wird gebeten, das Seegras nicht vor seiner Zeit zu wenden.
Doch ein weltfremder Schreibmaschinentipper im Dachstübchen sei er nie gewesen, berichtet Elfriede Jelinek nach einem Besuch beim Lebenskünstler H.C. Artmann im Jahr 1978. Fast die Hälfte seiner Gedichte, habe er aus Schlamperei weggeworfen. Dass trotzdem so vieles für die Nachwelt gerettet wurde, ist der Aufmerksamkeit von Artmanns Wiener Dichterkollegen Konrad Bayer zu verdanken. Mit ihm und anderen wie Ernst Jandl und Friederike Mayröcker gründet Artmann Anfang der 1950er Jahre die Wiener Gruppe. Die verschrieb sich einer grundsätzlichen Spracherneuerung aus den Quellen sowohl der Barockdichtung wie des Dadaismus und des Surrealismus. Und – das war hauptsächlich Artmanns Idee: Des Dialektes. Der Gedichtband, der ihn 1958 berühmt machte – med ana schwoazzn dintn – wurzelt in den Tiefen des Wiener Dialekts. Und mit tiefschwarzem Humor in den Abgründen der Wiener Vorstadt.
i bin a ringlgschbüübsizza/und hob scho sim Weida daschlon/und eanare gebein/untan schlofzimabon fagrom./heit lod i ma r ei di ochte/zu einen libesdraum –/daun schdöl i owa s oaschestrion ei/und bek s me n hakal zum!/so fafoar e med ole mal/wäu ma d easchte en gschdis hod gem./das s mii amoe dazwischen wean/doss wiad kar mendsch darlem!
Ich bin ein Ringelspielbesitzer/und hab schon sieben Weiber erschlagen/und ihre Gebeine/unterm Schlafzimmerboden vergraben./Heute lad’ ich mir die Achte/zu einem Liebestraum./Dann stell ich aber s’Orchestrion an/und hau sie mit ner Hacke zusammen./So verfahr’ ich mit allen Mädchen/weil mich die erste hat sitzen lassen./Dass sie mich mal erwischen werden,/das wird kein Mensch erleben.
i bin a ringlgschbüübsizza
und schlof en da nocht nua bein liacht
wäu i mi waun s so finzta is
fua de dodn weiwa fiacht.
Ich bin ein Ringelspielbesitzer
und schlafe nachts nur noch bei Licht
weil wenn es so finster ist,
fürchte ich mich vor den toten Frauen.
Er hat die Dialektdichtung völlig neu erfunden, indem er Dialekt ernst genommen hat.
Der Kabarettist Konrad Beikircher.
Plötzlich war Dialekt nicht mehr rückwärtsgerichtete , reaktionäre, fürchterliche Dichtung – Artmann war der, der damit aufgeräumt hat. Mit einem einzigen Aufstoßen hat er das alles weggefegt.
Aber H.C. Artmann deswegen als einen Mundartdichter zu bezeichnen, wäre falsch. Der Dialekt ist nur eine seiner Ausdrucksformen unter vielen. Er war ein vielsprachiger, weitgereister, ein wahrhaft kosmopolitischer Dichter, der aus dem Fundus allerlei realer wie imaginärer Sprachen schöpfte, ein anarchistischer Sprachfex und höchst unernster, immer selbstironischer Jargon-Jongleur. Mit neuen, ungehörten Wortschöpfungen, einem immensen Reichtum an Formen und Einfällen, mit bizarren Charakteren, surrealen Begebenheiten und makabren Bildern bleibt H.C.Artmann eine Ausnahmeerscheinung nicht nur der österreichischen, sondern auch der deutschsprachigen Literatur insgesamt.
Du atmest lebhaft über den Plateaus/rührest Grashalme./Lufthohe Wesen findest du dort,/Himmelsziegen./Bärte und Hörner von weither oder nah/bei Gewölken./In Strandkörben nennt man dich Bauchrednerin./Wie aber wenn du stumm bliebest, blaue Honiglarbe?/Regengiraffen recken Nasennüstern Tang./Wie lange wartest du noch,/reglos, du junge Ozeanin?
WDR 3 Kultur am Mittag, 11. Juni 2021