Zum Kulturerbe in NRW zählt bisher die „Bolzplatz-Kultur“ wie selbstverständlich der Karneval. Nun hat das NRW Kulturministerium zwei neue Kulturformen offiziell zum „immateriellen Kulturerbe“ des Landes erhoben: Das Steigerlied – „Lied des Bergmanns“ und die „Trinkhallenkultur“.
So wie es in der Schweiz einen „Röstigraben“ gibt und so wie sich quer durch Deutschland entlang der Donau der „Weißwurstäquator“ zieht, gibt es auch eine von Osten nach Westen verlaufende Kiosk-Zone. Im Norden findet man sie überall, die Kioske, im Süden sind sie so rar wie der Bartgeier. Einen der verzweifelsten Sonntag-Nachmittage meines Lebens verbrachte ich bei einem Hörspieltag in Karlsruhe. Drei Stunden lief ich durch die Stadt, um in einem Kiosk Zigaretten zu kaufen. Es gab keinen Kiosk. Ich weiß nicht mehr, wie ich diesen Nachmittag überlebte.
Daran, dass man ohne etwas nicht leben kann, erkennt man, dass es ein Kulturgut ist. Um es mit Loriot zu sagen: Ein Leben ohne Kiosk ist möglich, aber sinnlos. Als ich noch im heute sehr angesagten Belgischen Viertel in Köln lebte, war ein Kiosk mit dem sprechenden Namen „Brunnen von Köln“ mein Lebensmittelpunkt. Nicht nur wegen Bier und Zigaretten. Sondern weil Manni und Yasetin, die beiden Betreiber, nicht nur über alle Informationen, sondern auch über die Kundschaft verfügten, die das Leben im Viertel überhaupt möglich machten. Babysitterinnen, Handwerker, Übersetzerinnen und auch Sternenkundige.
Nun ist es leider so, dass wenn man etwas als Kulturgut erkennt, es in der Regel keines mehr ist. Sondern für etwas steht, das nur noch als Zeugnis einer bereits vergangenen Kultur Bedeutung hat, als Teil des Lebens aber nicht mehr existiert. So steht es um das „Steigerlied“, das das NRW-Kulturministerium jetzt in den Rang eines Kulturerbes erhob. Just zu dem Zeitpunkt, wo der letzte Bergmann ausfährt und der FC Schalke 04, wo man das lied immer noch als Vereinshymne singt, aus der ersten Liga abgestiegen ist.
Auch dem Kiosk – das Kulturministerium nennt es traditionsbewusst noch bei seinem alten, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Namen „Trinkhalle“ – schien lange Zeit die Zukunft verwehrt. Jedenfalls verlor es mit dem Zechensterben im Ruhrgebiet vorübergehend seine ursprüngliche kulturelle Funktion: Treffpunkt der Kumpel nach der Schicht, Informationsbörse der Nachbarschaften in den Bergmannssiedlungen und Süßigkeiten-Versorgungsquelle der Kinder.
Was es trotzdem am Leben erhalten hat, sind aber nicht die Versuche seiner Musealisierung: Seit 2016 gibt es eine ganze Reihe von offiziösen „Tagen der Trinkhalle“ bzw. des „Büdchens“ in NRW oder des „Wasserhäuschens“ im hessischen Frankfurt. Solche Kultisierung hat das „Büdchen“, wie wir in Köln die Trinkhalle nennen, gar nicht nötig. Kräftig und fröhlich lebt die Büdchenkultur weiter. Als Trutzburg in den durch Investoren-Architektur geschaffenen urbanen Wüsten. Als Zuflucht nicht klein zu kriegender Nachbarschaften. Als kleinste heimatliche Bindung im enger werdenden öffentlichen Raum.
Mein alter „Brunnen von Köln“ versorgt inzwischen den allabendlich brodelnden Szenetreff auf dem Brüssler Platz. Und schaue ich jetzt in meinem neuen Stadtteil Nippes hinunter auf den von einer fleißigen pakistanischen Familie betrieben Eck-Kiosk und seine sich davor versammelnde bunte Kundschaft, sehe ich auf einen lebendigen Ort öffentlichen Lebens: Die Trinkhalle ist kein Kultur-Erbe, sondern gelebte Kultur.
WDR 3 Resonanzen 11. Juni 2021